Dichter dran: Ronald Reng (FAZ 18.06.2014)
Mein Schwager erzählte mir, Cristiano Ronaldo habe ihm wehgetan. Es war vor gut einem Monat, Ronaldo hatte gerade ein Tor für Real Madrid im Champions-League-Halbfinale gegen Bayern München erzielt, aber das Tor war nicht das Problem. Der Anblick von Ronaldos Jubel schmerzte meinen Schwager zu Hause vor dem Fernseher körperlich.. Denn Ronaldo jubelte alleine, ganz verliebt in die eigene Tat. Dabei war die große Leistung an diesem Tor zum 0:3 in München nicht sein profaner Schuss gewesen, sondern die Vorarbeit von Gareth Bale, der den Ball über 30 Meter in irrsinnigem Tempo nach vorne trieb und dann noch die Übersicht besaß, auf Ronaldo abzuspielen. Wie kann er Bale in seinem Jubel ignorieren, dachte sich mein Schwager, und der Stich im Magen breitete sich im ganzen Körper aus.
Ich spüre jenen Schmerz bei dieser WM fast jeden Tag wieder. Stürmer Haris Seferovic schießt in letzter Sekunde das Siegestor für die Schweiz gegen Ecuador und bejubelt mit herausgestreckter Zunge ganz alleine seine vermeintliche Heldentat – dabei hielt er nur den Fuß in eine Flanke, und voraus ging die großartigste Tat dieser WM, als Seferovics Mitspieler Valon Behrami im eigenen Strafraum mit einer verwegenen Grätsche einen Torschuss verhinderte, aufsprang, losdribbelte, gefoult wurde, aber weiterrannte und den Angriff für Seferovic initiierte. Wieso lief Seferovic nicht zu Behrami? Im Spiel der Deutschen gegen Portugal schenkte Toni Kroos mit einem faszinierend präzisen Eckball Mats Hummels ein Kopfballtor, und Hummels rannte zum Jubeln in die entgegengesetzte Richtung. Kroos blieb alleine in seiner Ecke.
Die simple Erklärung für meinen Verdruss über den egoistischen Jubel ist: Ich hasse Torschützen. Ich war Torwart. Doch über meine eigene Niedertracht hinaus verbirgt sich hinter dem Anblick nur sich selbst feiernder Torjäger ein kurioses Phänomen des modernen Fußballs: Das Teamwork ist zum Mantra des
modernen Spiels geworden, Verteidigung wird nur noch im Kollektiv gelehrt, im Angriff ist das synchronisierte Zusammenwirken unverzichtbar – und just in dieser Zeit, da Fußballer ihre Individualität zum großen Teil einer übergeordneten Spielidee opfern müssen, wird der Personenkult hysterisch betrieben, nicht nur vom Schützen selbst, sondern auch von Publikum, Medien und der Werbeindustrie. Wie sehr wird nach dem 4:0 über Portugal der dreifache Torschütze Thomas Müller gepriesen und wie wenig der prächtige Vorbereiter Toni Kroos?
Ich, als Torwart, hatte gehofft, der FC Barcelona würde all das ändern. In seinem unbedingten Glauben an das permanente Zusammenspiel rückte Barca den Passspieler – die Helfer und Zuarbeiter – auf eine Höhe mit dem Torschützen. Ein Nachwuchstrainer des SC Freiburg erzählte mir einmal, dass er seinen Fußballkindern gerne Videos von Bargas Toren vorführe; nicht wegen der Tore, sondern wegen des Jubels: Da feiert wirklich die gesamte Elf zusammen. Als Bargas Spieler Thiago Alcantara und Dani Alves einmal einen inszenierten Tortanz aufführten, stoppte sie ihr Kapitän Carles Puyol schroff. Der Gegner könnte es als Verspottung empfinden, beschied Puyol. Aber nun ist Puyol im Ruhestand, und selbst Barca verpflichtet Allein-Jubler wie Ivan Rakitic.
Gewiss steckt im Ego-Jubel auch eine kleine Rebellion gegen den Zwang, im modernen Fußball stets ein funktionierender Teil des Kollektivs sein zu müssen. Nur einmal auszubrechen, ganz ich selbst zu sein erscheint eine nachvollziehbare Sehnsucht in einer Welt, wo bereits 13-Jährige an den Nachwuchsakademien der Profiklubs heute stets den logischen Pass spielen, nie einfach mal blind aus 20 Metern draufschießen sollen. Aber ich will auch nicht zu viel Verständnis für selbstverliebte Torjäger aufbringen. Eigentlich wollte ich nur sagen: Es war schön, am Montag bei Deutschland gegen Portugal Cristiano Ronaldo nicht jubeln zu sehen.
Ronald Reng ist Sportjournalist und Buchautor