„Die Welle politischer Tumulte und Revolutionen, die Deutschland am Ende des ersten Weltkriegs überrollte, gehört zu den Schlüsselepisoden des 20. Jahrhunderts. Eine durch Krieg und Niederlage gezeichnete Gesellschaft wurde erneut in ihren Grundfesten erschüttert. Die Entstehung einer dem sowjetischen Vorbild verpflichteten kommunistischen Linken einerseits und schwerbewaffneter konterrevolutionärer und rechtsradikaler Verbände andererseits sorgte für eine drastische politische Polarisierung. Die rhetorische Eskalation ging bald in Gewalt über. Freikorpstruppen und Spartakisten lieferten sich erbitterte Gefechte.

Nirgendwo war die Erweiterung des herkömmlichen politischen Spektrums dramatischer spürbar als in München. Am 7. November 1918 wurde der bayerische König als erster deutscher Monarch gestürzt. Die Armee lief zu den Revolutionären über, der König floh ins Exil. Nach der Ermordung des Ministerpräsidenten Kurt Eisner (USPD) am 21. Februar 1919 spitzten sich die Machtkämpfe zwischen linken und gemäßigten Sozialisten zu. Die Regierung des neuen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann (SPD) wurde am 7. April gestürzt und durch eine zunächst von pazifistischen und anarchistischen Intellektuellen geprägte bayerische Räterepublik abgelöst. Nach kaum einer Woche ergriffen jedoch die Kommunisten unter Eugen Leviné die Macht. Das inzwischen ins Exil ausgewichene Kabinett Hoffmann bat die Berliner Regierung um Hilfe. Mitte April rückten Reichswehrtruppen und Freikorpseinheiten gegen die bayerischen Revolutionäre vor. Es folgte die brutale Niederschlagung der Räterepublik, bei der schätzungsweise 2000 – auch vermeintliche – Anhänger ermordet, standrechtlich erschossen oder zu Haftstrafen verurteilt wurden.

Victor Klemperer führt uns durch die Wirren dieser bewegten Münchner Tage mit Empathie, Feinsinn und scharfem Blick. Versammelt in diesem Band sind Zeitberichte für die „Leipziger Neuesten Nachrichten“, von denen nur ein Bruchteil damals veröffentlicht wurde, sowie einschlägige Passagen aus einem späteren Erinnerungswerk, das 1942 abgebrochen werden musste.

Dank seiner 1995 im Aufbau Verlag veröffentlichten Tagebuchaufzeichnungen aus der Zeit des Dritten Reichs gehört Klemperer zu den meistgelesenen Augenzeugen des 20. Jahrhunderts.

Hier beschreibt Klemperer das Einrücken der Truppen bei der Zerschlagung der Räterepublik in der bayerischen Hauptstadt Anfang Mai 1919:

„………..heute bis in den späten Nachmittag hinein, wo ich diese Zeilen schreibe, tobt buchtäblich eine donnernde Schlacht. Ein ganzes Fliegergeschwader kreuzt über München, das Feuer lenkend, selber beschossen, Leuchtkugeln abwerfend; bald ferner, bald näher, aber immerfort krachen Minen und Granaten, daß die Häuser beben, ein Sturzregen aus Maschinengewehren folgt den Einschlägen, Infanteriefeuer knattert dazwischen. Und dabei marschieren, fahren, reiten immer neue Truppen mit Minenwerfern, Geschützen, Fouragewagen, Feldküchen durch die Ludwigstarße, bisweilen mit Musik, und am Siegestor hält eine Sanitätskolonne, und in allen Straßen verteilen sich starke Patrouillen und Abteilungen verschiedener Waffen, und an allen Ecken, wo man gedeckt ist und doch Ausblick hat, drängt sich das Publikum, häufig das Opernglas in der Hand.“

Klemperer versteht es, die Theatralik der politischen Ereignisse, das Element der Inszenierung einprägsam zu vermitteln. Ja, er sieht sogar ein Wesensmerkmal der Münchner Revolution. „In anderen Revolutionen, in anderen Zeiten, an anderen Orten“, schreibt er Anfang Februar 1919, „tauchen die Führer von der Straße, aus Fabriken, aus Redaktions- und Rechtsanwaltstuben auf. In München sind sie vielfach aus der Bohéme gekommen.“ Unter solchen Umständen erscheint die Politik nicht als Beruf, sondern als Bühne, auf der Träume (und Alpträume) ausgespielt werden.

„Ich bin ein Phantast, ein Schwärmer, ein Dichter!“, ruft der Ministerpräsident Kurt Eisner einer großen Versammlung im Hotel Trefler zu. Klemperer stellt zu seinem Erstaunen fest, dass Eisner, den er als „zartes, winziges, gebrechliches, gebeugtes Männchen“ wahrnimmt, mit diesen Worten beim Münchner Publikum tobenden Beifall erntet, und schließt daraus, den Münchnern gehe es primär nicht um Politik, sondern um Unterhaltung.

Was dem jungen Zeitgenossen im Frühjahr 1919 bisweilen lächerlich an der Münchner Revolution vorkommt, erscheint später dem verfolgten Juden im nationalsozialistischen Dresden in einem eher tragischen Licht. In der Rückschau erkennt Klemperer die wachsende Virulenz des im Nachkriegsdeutschland aufkeimenden Antisemitismus. „Ich will nicht übertreiben: Es gab in München damals eine ganze Reihe von Dozenten und Studenten, die diese aufflammende Judenfeindschaft durchaus verwarfen, und persönlich habe ich die ganze Münchner Zeit über niemals unter Antsemitismus zu leiden gehabt, aber bedrückt und isoliert fühlte ich mich doch durch ihn.“