Koexistenz und Kooperation statt Universalität und Rivalität der Mächte.
Der Westen steht im 21. Jahrhundert schwerwiegenden Herausforderungen gegenüber. Terror, Flüchtlingsströme, neuer Autoritarismus und Kriege in seiner Nachbarschaft sowie Staatsverschuldung und hohe Arbeitslosigkeit vor allem in Südeuropa zehren an seinem Selbstvertrauen. In dieser Situation ist es völlig unzureichend, dass sich die gesellschaftlichen Diskurse meist auf Symptome und auf kurzfristige machtpolitische Taktik beschränken. Für eine neue Strategie müsste sich der Westen dagegen mit den Ursachen und den langfristigen Folgen seines Handelns befassen und nicht nur die Bäume, sondern auch die Wälder sehen.
Von der universellen zur multipolaren Weltordnung: Die vom Westen ausgegangene Globalisierung ist diesem über den Kopf gewachsen. Die westlichen Versuche, nach dem Ende der Sowjetunion eine neue Weltordnung durch die Universalisierung seiner Werte und Strukturen aufzubauen, haben die Welt weiter destabilisiert.
Eine neue Weltordnung wird nicht mit Schwärmereien über die „Eine Welt“, sondern in der Kooperation des Westens mit anderen Großmächten wie insbesondere Russland und China errichtet werden, also in einer multipolaren Weltordnung. Ob im Konflikt um die Ukraine oder in Nordkorea: der Westen kann die Welt nicht mehr ohne diese Mächte ordnen.
Die größte Chance für eine Kooperation der Großmächte liegt in den wachsenden Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. Sie stehen nicht mehr nur feindlichen Mächten, sondern global agierendem Kapital, asymmetrisch kämpfenden Terroristen, Schleppern, Drogen- und Menschenhändlern gegenüber. Für seine Einbettung in eine multipolare Weltordnung müsste sich der Westen nach außen begrenzen und nach innen behaupten. Wie die Ursachen des islamistischen Terrorismus und der Migratiosströme zeigen, handelt es sich dabei um eine zusammenhängende Doppelstrategie. Das Rettende kann aber nur wachsen, wenn innergesellschaftlich wie international endlich offen über die Stabilisierung der Weltordnung diskutiert wird.
Eine ausdifferenzierte Weltordnung bedeutet: Politische Koexistenz trotz unterschiedlicher Werte, wissenschaftlich-technische Kooperation trotz ökonomischer Rivalität.
Die westlichen Interventionen haben weder der islamischen Welt noch dem Westen Glück gebracht. Die Waffenlieferungen an die „demokratischen“ Rebellen in Syrien via Saudi-Arabien und der Türkei haben den islamischen Staat möglich gemacht.
Die langfristigen Beziehungen zwischen den in ihrer Werteordnung oft inkompatiblen islamischen und westlichen Welten sollten von Koexistenz statt vom Wunsch nach Universalität gekennzeichnet sein. Weder sind die westlichen Werte im Orient erwünscht, noch will sich Europa einer Umma unterwerfen. Solange die Werteordnungen dieser Kulturen gegensätzlich sind, sollten sie sich auf eine zivilisatorische Kooperation in Bildung und Wissenschaft, bei Technik und Ökonomie beschränken. Langfristig können dann aus einer Zivilisierung der Kulturen gewissermaßen ökumenische Wege hervorgehen. Vorzeitige Annäherungen treiben dagegen Fundamentalismus und Populismus als Abwehrreflexe hervor.
In dem neuen politischen Großkonflikt zwischen Universalisten und Kommunitaristen bzw. Globalisten und Partikularisten geht es nicht mehr um Kategorien wie Links oder Rechts, richtig oder falsch oder um Gut oder Böse, sondern um den noch unverstandenen Konflikt zwischen Entgrenzung und Begrenzung.
Es ist der dialektische Kern westlicher Philosophie, aus Gegensätzen Gegenseitigkeiten zu machen – wie in der Sozialen Marktwirtschaft die Gegenseitigkeit von freiem Markt auf der einen Seite und Sozial- und Rechtsstaat auf der anderen Seite Kapital und Arbeit zu versöhnen vermochten. Ähnliches wird zwischen den Gegensätzen von Globalität und Nationalität gelingen müssen. Handlungsfähige Nationalstaaten müssen einerseits auf vielfältige Weise interagieren und dennoch auf der anderen Seite ihren Bürgern Schutz und Identität ermöglichen.
Weder Offene Grenzen noch Interventionen waren hilfreich. Separatismus oder Abschottung drohen die Welt ins Chaos zu stürzen. Gebraucht werden mittlere Wege: Hilfe zur Selbsthilfe in der Entwicklungspolitik, gesteuerte Einwanderung in der Migrationspolitik, nüchterne Gegenseitigkeiten statt illusionäre Gemeinsamkeiten in der internationalen Politik, kontrollierte Grenzen.
Ein Mittelweg zwischen Globalisierung und Nationalismus wäre auch die Konzentration auf die jeweilige eigene Großregion. Die USA hätten sich statt auf den Mittleren Osten auf Hilfen für eine gute Gouvernanz zu Mexiko konzentrieren sollen.
Das Freihandelsabkommen NAFTA von 1994 hat nicht nur Investitionen und Güteraustausch befördert, sondern zugleich auch den Drogenhandel und Menschenschmuggel. Will heißen: Mit dem Freihandel müssen auch die Kontrollen desselben wachsen.
In der EU steht die mangelnde Fähigkeit zu einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Grenzpolitik im Widerspruch zum wichtigsten Ziel der Union als Friedensunion. Die nationalen Grenzen werden auf Dauer nur in dem Maße offen bleiben, wie die äußeren Grenzen Kontrolle gewährleisten.
In der gemeinsamen europäischen Friedenspolitik geht es nicht mehr um überwindbare innereuropäische Konflikte, sondern um heute von außen heranbrandende Friedensbedrohungen. Eine zukunftsfähige Strategie für die EU würde daher lauten:
Einheit und Stärke nach außen und subsidäre Vielfalt nach innen.
(Zusammenfassung des Buches „Der Westen und die neue Weltodnung“ von Heinz Theisen – Verlag Kohlhammer Stuttgart 2017)