Der gebildete Antisemitismus

ERNST KÖHLER findet es empörend, dass es gerade die Belesenen und die Bischöfe sind, die das Vorgehen Israels im Gazastreifen mit dem der Nazis in Polen vergleichen.

„Gaza = Auschwitz Nr. 2“ stand dieser Tage auf dem Plakat einer Massendemonstration in Paris. Aber Ähnliches war auch bei uns, etwa in Düsseldorf, zu lesen. Man möchte den Empörten die Lektüre von Tadeusz Borowskis „Bei uns in Auschwitz“ empfehlen. Oder das Tagebuch von Emmanuel Ringelblum aus dem Warschauer Getto. Jedes dieser Werke, die die ganze Welt kennt, würde das geifernde Gerede verstummen lassen. Aber das ist wohl naiv gedacht. Diese Leute können lesen, was sie wollen. Es bedeutet ihnen nichts.

Ist das Antisemitismus? Wenn in Frankreich einige Feiglinge nachts einen Brandsatz in eine Synagoge werfen, ist das selbstverständlich Antisemitismus. Aber was haben wir vor uns, wenn auf einem Plakat steht: „Israel = SS“? Jedenfalls keinen Einzelfall. Keine isolierte Entgleisung, so viel steht fest. Auch bei uns sind derartige Vergleiche durchaus beliebt und gängig – man möchte sagen: salonfähig. Die Formulierung trifft es besser als das leicht abwertende Wort vom „Stammtisch“ bei dem man immer an das einfache, biertrinkende Volk denken muss. Es sind nämlich gerade die Belesenen, die Gebildeten, die Hochgebildeten, die Bischöfe, die das Vorgehen der Israelis gern mit dem der Nazis in Polen vergleichen. Eher selten laut und öffentlich – dazu bedarf es schon der Eskalation und des Krieges. Dafür regelmäßig im gelösten intellektuellen Gespräch. Der Vergleich Nationalsozialismus-Israel ist ein eklatanter Fall von Geschichtsklitterung, aber er ist ein fester Bestandteil unserer Gesprächskultur.

Das selbst gemalte Plakat in Düsseldorf schöpft aus dem Fundus unserer „Vergangeheitsbewältigung“. Hier passt das Unwort einmal. Es trifft ganz gut die tiefe, um nicht zu sagen: tierische Befriedigung, die es vielen verschafft, den Juden in Israel den Spiegel vorzuhalten. Die Juden Israels sollen sich im Spiegel des Schicksals ansehen, das die europäischen Juden im Zweiten Weltkrieg erlitten haben. Die meisten Israelis stammen heute zwar aus dem Orient, aber wir können uns nicht um jede Kleinigkeit kümmern. Es geht uns um das Grundsätzliche, um die Moral von der Geschichte. Mit Verlaub, ich duze die Israelis hier einmal kurz. Aus stilistischen Gründen, die Leidenschaftlichkeit, fast hätte ich gesagt: Der familiäre Charakter dieser Abrechnung verlangt einfach das „du“: Ihr habt vergessen, was ihr erlitten habt. Nein, nicht vergessen. Ihr nutzt euer ungeheuerliches Leid ja weidlich aus, um euch gegen jede Kritik von außen zu immunisieren. Ihr beschwört und instrumentalisiert euer Schicksal immer sehr gekonnt, wenn es eurer Politik dient. Aber euch wirklich angeeignet, verinnerlicht – so wie wir unsere Tätergeschichte – habt ihr eure eigene Leidensgeschichte nicht. Sonst tätet ihr nicht selber anderen an, was man euch einmal angetan hat. Sonst wärt ihr nicht wie alle anderen.

So etwa ließe sich der Zorn umschreiben, der uns an diesem Punkt unseres geistigen Lebens schon routinemäßig zu ergreifen scheint. Was für eine Strenge, was für eine Gerechtigkeit, was für eine Predigt ist das? Nebenbei gefragt: Wenn sie so wie alle anderen sind, warum nehmen wir die israelischen Juden dann so bevorzugt in unser Fadenkreuz – noch weit vor den Amerikanern, und das will etwas heißen? Antisemitismus (einer von der hinterfotzigen Sorte, der sich hinter einer offenkundig maßlosen, besessenen Israelkritik zu verstecken sucht) oder etwas anderes – auf jeden Fall wäre der Spiegel anders zu halten.

Der Autor ist Historiker und lebt in Konstanz