Besondere Menschen: Leo Tolstoi

„Ich habe Angst vor Tolstois Tod. Wenn er stürbe, bliebe in meinem Leben ein großer leerer Fleck. Ich habe keinen Menschen so sehr geliebt wie ihn; ich bin ein ungläubiger Mensch, aber von allen Arten des Glaubens halte ich gerade seinen Glauben für den, der mir selbst am nächsten ist. Tolstois Tun ist die Rechtfertigung all der Hoffnungen und Erwartungen, die in die Literatur gesetzt werden. Allein seine moralische Autorität ist in der Lage, die sogenannten literarischen Stimmungen und Strömungen auf einem gewissen Niveau zu halten. Ohne ihn wäre das eine Herde ohne Hirten oder ein Brei, in dem man sich schwer zurechtfände.“ (Fundstück)

„Ich würde mir nicht anmaßen zu behaupten, ich hätte jemals etwas geschrieben, das Tolstoi als Vorbild gerecht wird. Aber man kann als Schriftsteller ungeheuer viel von ihm lernen. Tolstoi erinnert einen daran, wie existenziell Literatur sein kann. Man bekommt noch in der kleinsten Erzählung Tolstois ein Gefühl für die Weite der Welt und den Reichtum der menschlichen Psyche. Man wird so unmittelbar in Berührung gesetzt mit existenziellen Grundtatsachen, mit dem Tod, mit der Unbeherrschbarkeit der Liebe, mit der Frage nach dem richtigen und falschen Leben, dass einem plötzlich der Großteil aller anderen Literatur furchtbar unnotwendig vorkommt. Tolstoi vereinigte Eigenschaften, die sonst ganz unvereinbar sind. Er war ein Rationalist und ein religiöser Fanatiker. Er war ein großer Literat. Er war ein Asket und zugleich eine barocke Natur mit ungeheuren Ausbrüchen von Leidenschaften. Er war ein Idealist und ein brutaler Egomane. Man versteht sofort, warum Tolstoi unter diesen Umständen kein glücklicher Mensch sein konnte.“ (Daniel Kehlmann in einem Focus-Interview)