Chancen-Gerechtigkeit

In der deutschen Gesellschaft geht es ziemlich gerecht zu – allerdings mit der Ausnahme, dass die Chancengerechtigkeit in den letzten Jahrzehnten kaum verbessert wurde.

Es gibt zwei Aspekte, die unser Leben im Guten wie im Bösen prägen: Das sind die ererbten Gene und die Lebensverhältnisse, in die ich hineingeboren werde. Die Wissenschaft streitet darüber, welcher der beiden Aspekte mehr Gewicht hat. Für mich ist das nicht relevant, weil ich weder etwas dafür kann, wenn ich „schlechte“ Gene geerbt habe, noch dafür, dass ich in einem katastrophalen Umfeld aufwachse.

Wir wissen heute, dass schon im Mutterleib mentale Prägungen beginnen (bereits im Alter von zwei Tagen können Neugeborene den Duft ihrer Mutter von fremden Frauen unterscheiden) und dass die ersten Wochen, Monate und Jahre entscheidend sind für die seelische Entwicklung; dabei geht die Kurve von oben nach unten: die Einflüsse des Umfelds sind am Lebensanfang sehr groß und nehmen dann bis zur Pubertät ab; danach geht kaum noch was.

Mir sind keine seriösen Analysen bekannt, aber nach meiner Einschätzung wachsen circa drei bis vier Millionen Kinder in Familien auf, wo verbale und körperliche Gewalt und mentale Verwahrlosung alltäglich sind; die deutsche Beobachtungsstelle für Drogensucht meldet, dass zweimillionensechshundertfünfundsechzigtausend Kinder in alkoholbelasteten Familien aufwachsen; diese Kinder befassen sich täglich mit widerwärtigen Videospielen – z.B. mit „Shooterspielen“, wo d a s Kind gewinnt, das möglichst vielen Gegnern ins Gesicht geschossen hat; harte Pornos kommen dann bald dazu. Ein paar Zitate zum Thema:

  • „Schläge auf die Gene – die Kindheit prägt einen Menschen viel mehr, als man vermuten würde. Misshandlung hinterlässt deutliche Spuren im Gehirn, wo Forscher sie auch im Erbgut entdecken.“
  • „Zu Hause in einem Müllberg. In Deutschland werden immer mehr verwahrloste Kinder entdeckt.“
  • „Die extreme Verwund- und Formbarkeit eines Kleinkindes erlaubt Einwirkungen, die zum Guten wie zum Bösen disponieren.“
  • „Ein Kind, das mit seinen Signalen nicht ankommt, das erleben muss, wie sie uminterpretiert werden je nach den Bedürfnissen und Ängsten der Eltern, baut kein gutes Selbstwertgefühl auf; es lernt nicht, seinen Reaktionen zu trauen.“
  • „Ökonomie des frühen Eingreifens. Die Familie ist laut Wirtschaftsnobelpreisträger James Heckman entscheidend für späteres Glück oder Unglück. Kinder aus schwierigen Verhältnissen müsse man darum früh staatlich betreuen. Denn wenn ihre Gehirnzellen nicht stimuliert werden, entwickeln sich diese kaum. Die Hauptquelle von Not im Leben eines Kleinkindes ist magelnde Stimulation:“
  • „…………diese Jugendlichen und jungen Erwachsenen reagieren verständnislos bis aggressiv, wenn ihnen in Schule oder Beruf Anforderungen abverlangt werden, die dem bisherigen verinnerlichten Selbstverständnis von einem problem-, hindernis- und anstrengungslosen Lebensweg nicht entsprechen. A b e r : Für diese Einstellung mit ihren daraus resultierenden Verhaltensweisen und den vielfach fatalen Folgen in individueller wie auch gesamtgesellschaftlicher Hinsicht ist am allerwenigsten diese Jugend selbst verantwortlich zu machen; diese Situation ist nicht von ihr kreativ gewollt und nicht aus sich selbst heraus entstanden.“-
  • „Es gibt zwar viele Risikofaktoren für Entwicklung zur Gewalt, verhindert wird sie nur durch emotionale Anbindung, institutionelle Einbindung mit Gewinnchancen und die Ermöglichung jugendgemäßer konventioneller Betätigung.“
  • „Etwa 5,5 Stunden täglich verbringen Jugendliche in Deutschland heute mit digitalen Medien. Wie die Gehirnforschung zeigen kann, behindert ein Leben „Online“ nicht nur das Lernen und die Konzentration, sondern auch das s o z i a l e V e r h a l t e n. Zur Dummheit gesellt sich eine merkwürdige Dumpfheit.“
  • „Vierfach werden Schüler aus unteren sozialen Schichten bestraft: Zunächst durch ihre Herkunft, dann durch die ungerechte Selektion am Ende der Grundschule, dann durch die schlechten Bedingungen an den Hauptschulen und dann lebenslang durch die geringsten Chancen auf dem Arbeitsmarkt.“ (Jedes Jahr verlassen über 60.000 Schüler die Hauptschule ohne einen Abschluss)
  • „Oft wird der Einzelgänger nicht deswegen ausgeschlossen, weil er sich unsozial verhält, sondern erst die Ausgrenzung macht ihn aggressiv, egoistisch oder sogar dümmer als zuvor.“

Was müsen wir tun? Auch dazu ein paar Zitate:

  • Bis zum 16. Lebensjahr gehen alle Schüler in eine Gemeinschaftsschule. Was soll die Teilung in Hauptschule, Realschule und Gymnasium? Warum teilen wir die Kinder in dumm, dümmer und schlau?
  • „Bildung ist der Schlüssel! In der Schule sollen sie nicht nur gesundes Essen bekommen, sondern auch lernen, wie man es kocht. Insbesondere Jungen müssen zu größerer Familienfähigkeit erzogen werden. Das fängt mit der Verhütung an und reicht hin bis zur gewaltfreien Lösung von Konflikten.“
  • „Man muss die Kinder nicht die ganze Zeit mit Wissen füttern, man muss ihnen auch nicht sechs Sprachen beibringen. Eher als ständiger Unterricht hilft den Kindern sozialer Austausch. Lassen Sie Ihre Kinder mit anderen spielen, bei anderen übernachten, das ist geistig anspruchsvoller als sechs Stunden Geigenunterricht.“
  • „An einer Schule in Heidelberg unterrichten Theaterschauspieler, Leistungssportler und Familientherapeuten, damit die Schüler lernen, was Glück ist.“
  • „Ertragen ist mutiger als schlagen. Ein beeindruckender Dokumentarfilm („Der Zorn junger Männer“) zeigt den Erfolg von Anti-Aggressivitäts-Training bei jungen Straftätern.“
  • Die wichtigste Therapie mit der besten Kosten/Nutzen-Relation ist Mannschaftssport: Fußball, Basketball und Handball. Wir müssen es unbedingt schaffen, alle Kinder in Ganztagsschulen unterzubringen; die Hausaufgaben sind i n der Schule unter Aufsicht der Lehrer zu erledigen und die Lehrer sind für die Noten ihrer Schüler mitverantwortlich. Vor allem aber wird viermal in der Woche Mannschaftstraining eingeplant; alles lernen die jungen Leute hier: Verlieren, gewinnen, Loyalität, Kameradschaft, soziales Verhalten („Der Starke beschützt den Schwachen“), Disziplin, Pünktlichkeit, gesunde Ernährung. Dieser Mannschaftssport kann in den Schulen stattfinden, wenn geeignete Lehrer und Sportplätze zur Verfügung stehen; er kann aber auch an die Sportvereine delegiert werden, wenn der Staat die entsprechenden Kosten an die Vereine erstattet. Eine wunderbare Seelen-Medizin für alle Menschen (auch für die Alten!) ist singen; alle Schulen sollten Chöre organisieren. Alle Eltern sollten ihre Kinder zu den Pfadfindern schicken – dort können sie dann „Wir wollen niemals auseinander gehn“ oder „Jenseits des Tales“ am Lagerfeuer singen. Die DVD „Die Kinder des Monsieur Matthieu“ ist die ideale Motivation!

Der Fußball-Ex-Profi Ewald Lienen zum Thema: „Ich sage seit Jahrzehnten, dass wir viel zu wenig in den Breitensport, in den Schulsport, in den Gesundheitssport und insbesondere in die Jugendbildung durch Sport investieren. Sport ist die größte Möglichkeit, Jugendliche zu erziehen, ihnen nahezukommen, überhaupt Einfluss auf sie zu haben. Durch das Sporttreiben können wir ihnen wichtige Werte wie gegenseitige Achtung und Respekt vermitteln. Dazu müssen wir die Sportvereine finanziell deutlich besser unterstützen. Im Grunde hat das Internet die Weltherrschaft übernommen und wir verlieren Zugang und Einfluss.“