Das Jahrhundert der Wölfe

von Nadeschda Mandelstam

Nadeschda Mandelstam beginnt im Jahre 1964 zurückzuschauen. Sie erinnert sich an ihre Zeit, an ihre Ehe mit dem Lyriker Ossip Mandelstam. Von 1919 bis 1938 hat sie ihn begleitet. Sie hat mit ihm seinen Ruhm genossen, und sie war mit ihm zusammen in der Verbannung.

Die Geheimpolizei hat ihn von ihrer Seite weggerissen, und sie ist von Dienststelle zu Dienststelle gelaufen, um zu erfahren, ob er noch lebt, ob er schon umgebracht wurde. Sie und ihre Freundin, die große Lyrikerin Anna Achmatova, haben die Hoffnung nie ganz aufgegeben, daß sich das Geschick wende, daß das „Jahrhundert der Wölfe“, von dem Mandelstam in einem seiner Gedichte spricht, ende.

Unfaßbar ist, mit welcher intellektuellen Überlegenheit, mit welcher Gefühlsstärke Nadeschda Mandelbaum alle diese Geschichten erzählt: wie sie Freund durchschaut, die zu Spitzeln werden; wie sie Pasternak, der Mandelstams wegen mit Stalin telefoniert, porträtiert; wie sie aus kleinen Bildnissen – eine Putzfrau, eine Vermieterin in Woronesch – die Wahrheit der Epoche schält. Sie alle sind unter der Gewalt krank geworden, psychisch und physisch; was sie vor dem Untergang bewahrt, sind die Anforderungen des täglichen Lebens, ist die Liebe zum anderen. Nadeschda Mandelstams Erinnerungen sind, obwohl mit unerhörter Offenheit die Politik Stalins reflektierend, eine Liebesgeschichte. 1938 verschwand Ossip Mandelstam endgültig in den Lagern, wo er umkam.

Nadeschda Mandelstam wurde am 31. Oktober 1899 in Saratow geboren. Ihr Vater war Jakov Kasin. Über den Beruf ihres Vaters ist nichts bekannt. Ihre Mutter war Ärztin. In einem ihrer Briefe, die der englische Slawist Clarence Brown zitiert, heißt es, die Eltern seien liebenswerte, hochgebildete Leute gewesen. Sie hatte eine Schwester, Anna, und einen Bruder, Efgenij, der ebenfalls Schriftsteller war. Ihre Jugendjahre verbrachte sie in Kiew, wo sie, zusammen mit Ilja Ehrenburgs späterer Frau Ljuba, Malerei studierte. Sie lernte Englisch, Französisch, Deutsch. 1956, im Alter von 57 Jahren, promovierte sie in Anglistik. Erst 1964 wurde ihr erlaubt, wieder nach Moskau zurückzukehren.

Ossip Mandelstam wurde am 15. Januar 1891 in Warschau geboren. Sein Vater war Kaufmann, seine Mutter Klavierlehrerin. Er studierte in Paris, Heildelberg und in Petersburg. Er gehörte zu einer Gruppe junger Dichter, die sich „Akmeisten“ nannten; darunter waren Gumiljow und Anna Achmatova. Er gilt als der größte russische Lyriker dieses Jahrhunderts. 1913 erschien sein erster Gedichtband „Steine“, 1928 sein letzer, eine Sammlung von Gedichten nach der Revolution. Mandelstam ist vermutlich 1938 in einem Lager umgekommen.