David Grossman redet Klartext !

„Beim Propheten Hosea heißt es: „Wer Wind sät, wird Sturm ernten.“ Wind sät Benjamin Netanjahu schon seit fast 12 Jahren. Einen bösen Wind, den Wind der Täuschung. Und jetzt, in den Tagen der Plage, zeigen sich die Resultate: Israel ist tief gespalten, hat die Richtung, den Glauben an sich und die Regierung verloren. Leichte Beute für den Corona-Sturm.

Netanjahu ist ein verführerischer Redner, der zu begeistern versteht. In dieser Woche hatte er einen großen und sehr wichtigen außenpolitischen Erfolg zu verzeichnen. Im eigenen Land aber fühlen sich viele Israelis fremd, wie exiliert. Warum meinen so viele von uns, hier nicht mehr atmen zu können, ersticken zu müssen? Sind wir womöglich Betäubte und Beatmete? Sind wir Knetmasse, die sich jede Manipulation gefallen lässt? Flexibles, weiches Material, aus dem sich die pseudodemokratische Diktatur formen lässt, die Netanjahu zurechtbastelt? Die Protestbewegung gegen ihn ist erfrischend, ermutigend – und wichtig: Plötzlich wird Klartext geredet, wird das uns seit langem einlullende Echo des ewigen „Ich, Ich, Ich“ durchbrochen. Der Protest schenkt uns jene Erleichterung, die sich einstellt, wenn man nach vielen Jahren endlich wieder die Wahrheit hört. Zugegeben: Die Protestbewegung besteht aus vielerlei Gruppen, von denen manche kaum etwas miteinander gemein haben; sie verfügt über mehrere führende Köpfe und muss ihren Weg noch finden. Doch gerade darin liegt ihre Stärke. Noch ist sie unbehauen, noch besitzt sie die rohe Energie dessen, der erst einmal einen Würgegriff sprengen muss, noch ist sie eine Mischung aus anschwellendem Gebrüll und klug formulierten, überzeugenden Argumenten.

Netanjahu ist zu einer Art bösem Geist mutiert und erdrückt einen ganzen Staat, der den räuberischen Egoismus und die schamlose Korruption seines ersten Dieners hilflos und beinahe apathisch beobachtet.

Wir haben Angst um unseren Staat. Wir befürchten, das Wunder, das diesen Staat erschaffen und kraft der in ihm herrschenden Solidarität bis heute erhalten hat, könnte seine Wirksamkeit einbüßen. Deshalb stehen wir Woche für Woche vor der offiziellen Residenz in der Jerusalemer Balfour-Straße, vor Netanjahus Privatresidenz in Cäsarea und auf den 315 Autobahnbrücken im ganzen Land. Dort werden wir weiterhin stehen, protestieren und ihm zurufen: Dibbuk, zieh aus! Zieh aus aus unserem Leben und geh deines Wegs. Wir wollen die Ruinen, die du uns hinterlässt, jetzt endlich restaurieren. Hoffentlich gelingt es uns, einige der essentiellen demokratischen Fähigkeiten – Meinungsvielfalt ohne Gehässigkeit, Verschiedenheit ohne Hass – wieder zu erlernen.

Netanjahu ist schlicht unfähig, Versöhnung dort zu bewirken, wo Israel ihrer verzweifelt harrt. Er kann es einfach nicht. Er benutzt die ihm Unterstellten und nutzt sie einfach aus: Er empfindet auch kein echtes Mitleid mit den angeschlagenen Israelis, deren Elend er durch Taten und Versagen selbst verursacht hat.“ (FAZ) Von David Grossman, Friedenspreisträger des Jahres 2010, ist soeben der Roman „Was Nina wusste“ erschienen.