Der Schuldgrundsatz – aus der Affenzeit?

Leserbriefe, die bereichern (aus der FAZ)

Zu „Entkriminalisierung von Kindesmissbrauch?“ von Professor Clemens F. Hess (FA.Z. vom 18. Januar), der zu dem Artikel „Fatales Vertrauen“ (F.A.Z. vom 10. Januar) Stellung nimmt. In Deggendorf steht ein ehemaliger katholischer Priester vor Gericht. Ihm wird schwerster sexueller Missbrauch zahlreicher Kinder vorgeworfen. Die Staatsanwaltschaft geht von einer „Störung der Sexualpräferenz im Sinne einer Pädophilie“ und von einer „verminderten Schuldfähigkeit“ aus. Der Leser Professor Hess berichtet nun von (allerdings wohl umstrittenen) Forschungsergebnissen, nach denen pädophile Männer, die zum Täter werden, „charakteristische neurobiologische Veränderungen aufweisen“. Seine Befürchtung: Die Täter würden als Opfer einer Krankheit gesehen, seien daher lediglich vermindert schuldfähig, und es drohe die Entkriminalisierung von Kindesmissbrauch.

Unser Strafrecht beruht auf dem Schuldgrundsatz. Wer ohne Schuld handelt, kann daher’ nicht bestraft werden. Man wird also einen Täter mit charakteristischen neurobiologischen Veränderungen, für die er nichts kann, als weniger schuldig ansehen müssen. Ebenso wie einen Täter, dessen strafbares Verhalten offensichtlich von einem Hirntumor oder einer Hirnverletzung hervorgerufen wurde. Eine Entkriminalisierung dieser Straftaten droht deswegen nicht. Schuldunfähigkeit und verminderte Schuldfähigkeit sind Sonderfälle, die in den §§ 20 und 21 StGB geregelt sind. Die Regelung solcher Sonderfälle beruht auf der Unterscheidung von gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien Entscheidungen. Eine solche Unterscheidung ist allerdings problematisch, da „moralische Defekte“ auch unsichtbare neuronale Ursachen haben können.

Ist ein strafbares Verhalten offensichtlich Folge einer Hirnverletzung, gehen wir von einer unfreien Entscheidung aus. Ist ein solches Verhalten Folge einer nicht sichtbaren Störung der neuronalen Struktur des Gehirns, nehmen wir eine freie Entscheidung an. Das Schuldprinzip im Strafrecht beruht auf der Voraussetzung, dass wir im Normalfall über einen freien Willen verfügen und so die Möglichkeit haben, uns jederzeit für oder gegen eine strafbare Handlung zu entscheiden. Es ist keine neue Erkenntnis, dass diese Voraussetzung nicht zutrifft und unsere üblichen Vorstellungen von der Willensfreiheit auf einer Illusion beruhen. Arthur Schopenhauer hat dies in seiner noch heute lesenswerten „Preisschrift über die Freiheit des Willens“ anschaulich dargelegt. „Der Mensch kann tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will“, so die Formulierung der Schopenhauerschen Erkenntnis durch Albert Einstein.

Der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer (1903-1968) strebte eine Reform des Strafrechts an und zitiert Friedrich Nietzsche, um die Unsinnigkeit eines Schuldstrafrechtes zu verdeutlichen: „Die Menschen wurden ,frei‘ gedacht, um gerichtet, um gestraft werden zu können …, folglich musste jede Handlung als gewollt, der Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend gedacht werden.“ Bauer strebte eine Abschaffung des Schuld- und Sühnegedankens im Strafrecht an. Der Vergeltungstrieb sei „ein deutliches Erbe unserer Affenzeit“.

Heute wissen wir, dass es tatsächlich unsinnig ist, sich den Ursprung jeder Handlung im Bewusstsein liegend zu denken. Die Hirnforschung zeigt, dass unsere Motive und Entscheidungen auf deterministischen neuronalen Prozessen beruhen, die uns nur zum kleineren Teil bewusst sind. Für die bewussten Prozesse fühlen wir uns verantwortlich und empfinden unseren Entscheidungsprozess als frei. Die bewussten Prozesse sind jedoch das Ergebnis nicht bewusster Vorgänge, die sich unserer Kenntnis und damit auch unserer Verantwortung entziehen. Dem Bewusstsein verborgene Hirnprozesse führen zu Entscheidungen, für die wir uns nachträglich Begründungen zurechtlegen. Offensichtlich tun wir nicht, was wir wollen, sondern wollen, was wir tun. Die Rechtswissenschaft kann sich den Erkenntnissen der Naturwissenschaft nicht dauerhaft verschließen. Eine Reform des Strafrechts ist überfällig.

DR. KURD GEERKEN, DÖRPEN