Die Geschichte und das Schicksal unserer Nachbarländer Polen und Frankreich sind seit vielen Jahrhunderten mit jener Deutschlands und Europas verwoben. Über Frankreichs Historie, über die Intellektuellen, die Künstler, die Folgen der Revolution und die politischen Entwicklungen bilde ich mir ein, relativ viel zu wissen. Über Polen weiß ich außer den Ereignissen der letzten 80 Jahre so gut wie nichts.
Durch die aktuellen Reparationsforderungen der Polen ist eine Diskussion in Gang gekomen, die auf der Basis von Fakten dazu führen kann, dass wir auf lange Sicht ein ebenso freundschaftliches und entkrampftes Verhältnis zu Polen aufbauen wie zu Frankreich, zumal wir Mitglieder der EU-Familie sind.
Die menschenverachtende Politik der Ausbeutung und Vernichtung der Polen ist u.a. durch einen NS-„Rechtssetzungs“-Akt belegt: „Verordnung über die Strafrechtspflege gegen Polen und Juden in den eingegliederten Ostgebieten“ (Polenstrafrechtsverordnung) vom 4. Dezember 1941: Nachdem sich der NS-Staat das polnische Staatsgebiet einverleibt hatte, wurde eben n i c h t das „normale“ deutsche Strafrecht auf die überfallenen Polen erstreckt, sondern sie wurden zu Rechtssklaven der Deutschen erklärt; die Polen unterlagen einer „Gehorsamspflicht.“ Für Deutsche galt weiterhin das Strafgesetzbuch mit hunderten Paragraphen, für Polen und Juden reichten zwei Seiten Text im Reichsgesetzblatt – davon drei kurze Texte zum materiellen Strafrecht und neun Abschnitte zum Strafverfahrensrecht; darin war die Gehorsamspflicht wie folgt formuliert: „Polen und Juden haben sich in den eingegliederten Ostgebieten entsprechend den deutschen Gesetzen und den für sie ergangenen Anordnungen zu verhalten. Sie haben alles zu unterlassen, was der Hoheit des Deutschen Reiches und dem Ansehen des deutschen Volkes abträglich ist.“ Auf „Ungehorsam“ wurde wie folgt reagiert:
„Sie werden mit dem Tode, in minder schweren Fällen mit Freiheitsstrafe bestraft, wenn sie durch ihr sonstiges Verhalten das Ansehen oder das Wohl des deutschen Reiches oder des deutschen Volkes herabsetzen oder schädigen.“ Dazu ein Fallbeispiel: Eine polnische Hausangestellte, die im Rahmen einer verbalen Auseinandersetzung versehentlich mit ihrer Handtasche das Gesicht ihrer deutschen Dienstherrin gestreift hatte, erhielt aufgrund dieser „Rechtsnorm“ die Todesstrafe, die auch vollstreckt wurde.
Die brutale deutsche Okkupation kostete bis 1945 fast jeden fünften Einwohner Polens das Leben. Darunter befanden sich 3 Millionen jüdische und 2,7 Millionen christlische Polen.
Nach dem Krieg haben sich „hunderttausende oder gar Millionen“ Polen die zurückgelassenen jüdischen Besitztümer und Betriebe angeeignet; die bis dahin agrarisch geprägte polnische Wirtschaft wandelte sich und liess eine neue Mittelschicht entstehen. Darüber wird natürlich bis heute nicht gerne gesprochen.
Die polnischen Juden, die in Verstecken überlebt hatten oder die zurückgekehrt waren, hatten noch lange nach Kriegsende Angst vor einer Wiederkehr des polnischen Antisemitismus; viele von ihnen fanden nach ihrer Rückkehr polnische Bewohner in ihren Häusern; als sie Besitzansprüche stellten, endete das oft tödlich für die Rückkehrer.
Der langjährige kommunistische polnische Regierungschef Gomulka wiederbelebte den Antisemitismus schon in den sechziger Jahren; er machte die Polonität vor allem an ethnischer Zugehörigkeit und am katholischen Glauben fest; er teilte die polnischen Juden in drei Gruppen: Jüdische Nationalisten, die sich Israel verbunden fühlten und solche, die sich weder als Polen noch als Juden verstanden und Juden, für die Polen das einzige Bezugsland war und nur diese „seien geschätzt“.
Die amerikanische Soziologin Celia Heller hat die Situation der Juden in Polen v o r dem deutschen Angriff in ihrem Buch „On the Edge of Destruction“ beschrieben und festgestellt, dass die Juden bereits am Abgrund standen und die Deutschen sie dann hineingestoßen haben. Der polnische katholische Kardinal Hlond hatte bereits in einem 1936 verfassten Hirtenbrief die Polen dazu aufgerufen, sich von diesen „Freidenkern, Bolschewisten, Betrügern und Jugendverderbern“ zu trennen.
Auf Reparationszahlungen hat die polnische Regierung mit Wirkung zum 1. Januar 1954 verzichtet, weil „Deutschland seinen Verpflichtungen zur Zahlung von Reparationen bereits in bedeutendem Maße nachgekommen ist.“ Diese Verzichtserklärung ist aus polnischer Sicht aber unwirksam, weil sie damals auf Druck der Sowjetunion abgegeben wurde. Im Jahr 2004 forderte das polnische Parlament erneut Reparationen von Deutschland, aber die polnische Regierung kam aufgrund einer von Wissenschaftlern erstellten Studie zu dem Schluss, dass auch die entschädigungslose Enteignung der Deutschen in den ehemaligen Ostgebieten als Teil der Reparationen anzusehen ist.
Der polnische PiS-Chef Kaczynski versucht sich mit Themen wie Kriegsschäden, Reparationen und anderen antideutschen Vorurteilen als Wahrer polnischer Interessen zu profilieren. Die Hälfte der Polen sind für Reparationsforderungen – die Hälfte dagegen.
Im Rahmen der Zwei-plus-vier-Verträge vom September 1990 ist Polen fast ein Drittel des ehemaligen deutschen Staatsgebietes überschrieben worden – nämlich Niederschlesien, Oberschlesien und Westpreußen.
Die deutsche Bundesregierung lehnt die Reparationsforderungen ab und das ist gut so.
Auch die deutschen Vertriebenenverbände haben sich von früheren reaktionären Einstellungen und Forderungen losgesagt und versuchen, konstruktive und freundschaftliche Beziehungen zu den ehemaligen Ostgebieten zu pflegen. Auch das ist sehr lobenswert und verdient volle Unterstützung.