„Die Emanzipation Europas“

Unter dieser Schlagzeile schreibt der Autor Stefan Baron im Handelsblatt einen Artikel, den man gelesen haben muss und der auch in den Schulen besprochen werden sollte:

Der „alte Kontinent“ sollte sich von Amerika lösen und eine kluge Fernostpolitik nach dem Vorbild von Willy Brandts Ostpolitik betreiben.

Amerikas und Europas Interessen sind nicht mehr dieselben. Anders als für die USA stellt China für unseren Kontinent weniger eine Bedrohung als eine Chance dar. Eine Bedrohung resultiert für Europa dagegen aus der Weigerung Washingtons, seine globale Hegemoniestellung aufzugeben, und dem Versuch, Pekings weiteren Aufsteig zu konterkarieren. Eine strategische Kooperation mit China etwa bei der Initiative „Neue Seidenstraße“ böte Europa und speziell Deutschland beträchtliche Wachstumschancen. Zugleich könte die Zusammenarbeit das Problem der Massenemigration aus Asien und Afrika, die Europa zu destabilisieren droht, erheblich entschärfen.

Mit einer klugen und selbstbewussten Fernostpolitik könnte Europa überdies eine führende Rolle bei der Bildung einer multipolaren Weltordnung spielen und einen neuen Kalten Krieg oder gar bewaffnete Konflikte zwischen den USA und China (plus Russland) verhindern, die uns alle ins Unglück stürzen würden.

Europa muss sich nicht für eine Seite entscheiden, wie manche Politiker meinen. Europa muss vielmehr seine eigenen Interessen verfolgen, seinen eigenen Weg gehen und sich von Amerika emanzipieren.

Wer fürchtet, ein solch dritter Weg, der sich auf die Prinzipien der friedlichen Koexistenz und des Völkerrechts stützt, werde unseren Kontinent am Ende in eine Kolonie Chinas verwandeln, verkennt nicht nur die Kultur dieses Landes und seine geopolitischen Absichten; er hat auch Europa als eigenständige Größe bereits abgeschrieben, kann sich den alten Kontinent nur noch als Wurmfortsatz Washingtons vorstellen.

Sich aus den Armen Amerikas zu lösen heißt nicht, sich in die Arme Chinas zu werfen. Dies wäre geradezu widersinnig. China teilt unsere Vorstellungen von Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrechten nicht einmal auf dem Papier. Das wird auf absehbare Zeit auch so bleiben.

Dass eine Emanzipation und stärker eurasische Orientierung Europas nicht auf eine endgültige oder vollständige Abkehr von Amerika hinausläuft, versteht sich von selbst. Wahr ist aber auch, dass die Vereinigten Staaten die „westlichen Werte“ nicht mehr allzu glaubwürdig verkörpern.

Als Billigproduzent simpler Massenware war das sozialistische China dem Westen lange hochwillkommen. Als Gegner oder Feind wird China erst wahrgenommen, seit es sich zu einem ernsthaften Wettbewerber aufgeschwungen hat. Aber nicht nur aus diesen Gründen ist die Verteufelung Chinas vor allem durch die USA so unglaubwürdig.

In den USA sind Demokratie, Rechtsstaat und Schutz der Menschenrechte selbst längst nicht mehr das, was sie einmal gewesen sein mögen. Das „Land der Freien“ ist zu einer Plutokratie verkommen, sogar der friedliche Machtwechsel durch Wahlen scheint im „Musterland der Demokratie“ nicht mehr selbstverständlich.

Die Welt ist an einem historischen Wendepunkt. In diesem Jahrzehnt wird sich entscheiden, wie das gesamte 21. Jahrhundert verläuft. Viel hängt davon ab, welchen Weg Europa einschlägt. Nur wenn es den Mut aufbringt, sich von Amerika zu emanzipieren, es die Fahne der „westlichen Werte“ hochhält, echte strategische Autonomie erlangt sowie Washington und Peking auf Augenhöhe gegenübertritt, darf die Welt eine gute Zukunft erwarten.

Stefan Baron ist Mitverfasser des preisgekrönten Bestsellers „Die Chinesen – Psychogramm einer Weltmacht“. In diesen Tagen erscheint sein neues Buch „Ami go home! Eine Neuvermessung der Welt“.