von René Lüchinger
Machen Journalisten eine Sache zum Grossereignis, bleibt die Wahrheit auf der Strecke.
«Die Kunst der Skandalierung und die Illusion der Wahrheit». So lautet der Titel des Standardwerks des deutschen Kommunikationswissenschaftlers Hans Mathias Kepplinger, welches aufzeigt, dass «alle Skandale ähnliche Muster» aufweisen, die Gründe nennt und beschreibt, wie «auf dem Höhepunkt der Skandale die Wahrheit meist auf der Strecke bleibt».
Über die Täter und Opfer heisst es: «Die meisten Personen und Organisationen, die skandaliert werden, haben tatsächlich die Regeln verletzt. Die meisten Skandalierten bestreiten das nach einiger Zeit auch nicht mehr. Zudem akzeptieren sie in der Regel die öffentliche Kritik. Trotzdem fühlen sich nahezu alle Skandalierten als Opfer des Geschehens und der Medien.»
Und weiter: «Bei jedem Skandal gibt es im Journalismus wenige Wortführer, einige Mitläufer, viele Chronisten und kaum Skeptiker. Die Wortführer recherchieren meist intensiv an der Geschichte. Ab einem bestimmten Punkt sind sie von der Wahrheit ihrer Geschichte fest überzeugt. Sie glauben an die Schuld des Skandalisierten, interpretieren ihre Informationen entsprechend, betrachten Zweifel an ihrer Darstellung als Vertuschungsversuch und revidieren sie meist auch dann nicht, wenn sie sich als falsch oder unwahrscheinlich herausstellt. Im Zweifelsfall haben sich die Gutachter geirrt, die Zeugen gelogen, die Gerichte falsch entschieden.»
Über die journalistischen Mitläufer sagt Kepplinger: «Bei den Mitläufern handelt es sich um Journalisten, die meist keine eigenständigen Recherchen betreiben. Sie stützen sich vor allem auf ihre kundigen Kollegen und reichern die bekannten Tatsachenbehauptungen mit marginalen Details oder passenden Spekulationen an. Neben den Mitläufern finden sich zahlreiche Chronisten, die selbst keine Wertungen einbringen, aber durch ihre Berichte über die Vorwürfe anderer der Skandalierung Glaubwürdigkeit und Gewicht verleihen. In fast allen Skandalen gibt es im Journalismus Skeptiker, die den allgemein verbreiteten Sichtweisen misstrauen, sie mit Argumenten und Fakten in Frage stellen und nicht konforme Informationen neutral präsentieren. Bei den Skeptikern handelt es sich allerdings nur um eine verschwindend kleine Minderheit, die innerhalb und
ausserhalb des Journalismus kaum Gehör findet.»
Was bleibt, ist die «Illusion der Wahrheit»: «Erweist sich im Skandal die zentrale Behauptung als falsch, wird auf andere Sachverhaltev erwiesen, die das Verhalten der Angeprangerten skandalös erscheinen lassen. Auf diese Weise mutieren Sachverhalte, die im Vergleich zur zentralen Behauptung unerheblich sind und allein kaum Beachtung finden würden, zum Beweis für die Richtigkeit des zentralen Vorwurfs. Gäbe es eine Produkthaftung für Skandalberichte, die nicht wünschenswert ist, wären einige Medien in kurzer Zeit konkursreif. Aus der problematischen Nutzen-Schaden-Bilanz folgt jedoch nicht, dass die Massenmedien gravierende Missstände nicht anprangern sollten. Dies ist vielfach der einzige Weg zu deren Beseitigung. Die Skandalierung von Missständen stellt jedoch keinen Wert an sich dar, und der Nutzen der Skandalierung steigt auch nicht durch die Zahl der Skandale. Auch im Skandal heiligt der Zweck nicht die Mittel, was vermutlich nicht einmal jene bestreiten, die ihn lieben und betreiben.»