Die Wurzeln von Japans Staatsschuld

von Ikuo Hirata

Die erwachsenen Japaner nehmen in einem Vergleich unter 24 entwickelten Nationen den ersten Platz ein, wenn es um Lese- und Rechenkompetenz geht. So hat es jedenfalls eine Studie der OECD im Frühjahr ergeben. Japans Wirtschaft liegt in der Wettbewerbsfähigkeit weltweit auf Platz 9. Auf der jüngsten Liste des „Global Competivness Report“ hat sich das Land wieder verbessert, nachdem es in den Vorjahren immer weiter abgerutscht war. Diese Ranglisten zeigen, dass Japaner ein hohes Maß an Wissen und eine hohe Auffassungsgabe haben.

Das wirft eine Frage auf. Wie kann es sein, dass ein Land mit so viel Fähigkeit und Wissen mit einer so außergewöhnlich großen Schuldenlast ringt? Japan ist bald mit dem Zweieinhalbfachen seiner jährlichen Wirtschaftsleistung verschuldet – die höchste Last unter allen entwickelten Ländern der Erde. Als ich kürzlich die Debatte und den
Konflikt in den Vereinigten Staaten über die amerikanische Staatsverschuldung verfolgte, habe ich mich für einen Moment gefragt, ob Japan jemals in eine solche politische Lähmung geraten könnte? Meine Antwort war: nein. Im amerikanischen Kongress haben die Republikaner unnachgiebig gegen die Gesundheitsreform von Präsident Obama
gekämpft. Obwohl die Republikaner – die damit 50 Millionen unversicherten Amerikanern weiterhin eine Gesundheitsversorgung verweigern – herzlos und gleichgültig gegenüber den Menschen scheinen, lehnten viele Amerikaner Obamas Pläne weiter ab. Während einer Fernsehdiskussion sagte eine Frau der konservativen Tea Party, sie fürchte, eine wachsende Staatsquote könne ihre Zukunft untergraben.

Solche Sorgen haben Japaner nicht. An solchen Debatten gibt es kein Interesse. Tetsu Watsuji (1889-1960), ein bekannter japanischer Philosoph und Historiker, hat in seinem Buch „Fudo“ (Klima und Kultur) vor 78 Jahren geschrieben, dass parlamentarische Politik von den Menschen so lange nur als Comic-Spektakel wahrgenommen wird, bis sie
sich bewusst werden, dass sie Teil der Gesellschaft sind. Erst dann fangen sie an, sich selbst zu sozialen Problemen zu verhalten. Diese Sicht Watsujis enthält bis heute einen Kern Wahrheit.

Ein Unterschied zwischen dem japanischen und dem amerikanischen politischen System liegt im gegenseitigen Wohlwollen und in dem Bestreben, dem anderen keine Unannehmlichkeiten zu bereiten. Seit den Zeiten des Prinzen Shotoku (574-622) haben Japaner die anderen Menschen warmherzig und freundlich behandelt. Shotoku, ein großer Philosoph und Staatsmann, hat immer die Harmonie und Eintracht in den Beziehungen der Menschen betont. In Japan ist es nicht möglich, unversicherte Menschen von der medizinischen Versorgung auszuschließen. Deswegen bringen japanische Politiker auch sofort große neue Nachtragshaushalte für Konjunkturprogramme auf den Weg, wenn sie befürchten, dass sich die wirtschaftliche Entwicklung abschwächt.

Dieses Streben nach Harmonie nimmt in der politischen Welt verschiedene Formen an. So vermeiden japanische Politiker schmerzhafte Sozialreformen, obwohl die sozialen Sicherungssysteme unter immensem finanziellen Druck stehen und die Kosten jährlich um rund eine Billion Yen wachsen. Das führt dazu, dass die Schulden steigen
und dass die japanische Politik abhängig von der Ausgabe von Staatsanleihen ist.Das aber ist unverantwortlich gegenüber den künftigen Generationen. Die japanische Politik zeigt damit ein doppeltes Gesicht.

Die amerikanische Soziologin Ruth Benedict hat in ihrem klassischen Werk „Chrysantheme und Schwert“ die Theorie aufgestellt, dass Japan eine Kultur der Scham habe. Scham zu vermeiden ist demnach die Grundlage menschlichen Verhaltens. Benedicts Theorie erklärt, warum japanische Politiker so zurückhaltend mit Strukturreformen sind.
Sie haben Angst davor, dass die Gesellschaft sie dafür ächten und Demütigungen aussetzen wird.

In seinem Buch „Amae – Freiheit in Geborgenheit“ beschreibt der japanische Psychiater Takeo Doi (1920-2009) zwischenmenschliche Beziehungen in Japan als drei konzentrische Kreise. Der innerste Kreis ist gekennzeichnet durch Amae, durch Abhängigkeit und Freiheit in Geborgenheit. Er zeigt sich in der Nachsicht der Mutter mit ihrem Kind. Der zweite Ring besteht aus Bekannten und Kollegen, zu denen es notwendige Interaktion und Verpflichtungen gibt. Der dritte Kreis besteht aus denen, die außen stehen. Generell neigten die Menschen dazu, ihnen gegenüber gleichgültig oder sogar unhöflich zu sein. Auf den Punkt gebracht: Der heutige Gesetzgeber ist gleichgültig gegenüber einer Gruppe, die er als Außenseiter empfindet: den zukünftigen Generationen.