Dieses Buch muss man lesen: „Das Jahrhundert der Wölfe“ von Nadeschda Mandelstam

Einige Zitate:

= Eine Ausweisung fürchteten wir nicht. Verbannung und Ausweisung waren bei uns zu normalen Erscheinungen geworden. In den ruhigeren Jahren, als alle etwas aufatmen konnten, als der Terror uns nicht umbrandete, erfolgten im Frühjahr – für gewöhnlich im Mai – und im Herbst vor allem unter der Intelligenzija verhältnismäßig viele Verhaftungen. Dadurch wurde die Aufmerksamkeit von den wirtschaftlichen Mißerfolgen abgelenkt. Ein spurloses Verschwinden gab es zu dieser Zeit aber kaum: die Leute schrieben aus der Verbannung, saßen ihre Zeit ab, kehrten zurück und wurden wieder verbannt.

= Die Menschen würden schichtweise, den Kategorien entsprechend, entfernt (auch das Alter spielte dabei eine Rolle). Die Kategorien waren: Die Angehörigen einer Kirche, die Mystiker, Gelehrte, Idealisten, besonders Schlagfertige, Ungehorsame, denkende Menschen, Schwätzer, Verschwiegene, Streitsüchtige, Leute, die Überlegungen über das Recht, den Staat oder die Wirtschaft anstellten, ja, auch Ingenieure, Techniker und Agronomen, denn es tauchte jetzt der Begriff der „Schädlinge“ auf, denen alle Mißerfolge und Fehlkalkulationen zugeschoben wurden.

= Bucharins Weg war ganz anders. Er sah klar, daß die neue Welt, bei deren Aufbau er aktiv teilgenommen hatte, keineswegs die Verwirklichung der Idee bedeutete. Das Leben verlief nicht nach Plan, die Pläne aber waren zum unantastbaren Heiligtum erklärt worden, und es war verboten, einen Vergleich zwischen ihnen und der Wirklichkeit zu ziehen. Die Theorie des Determinismus brachte, wie es nicht anders zu erwarten war, unglaubliche Praktiken hervor, die jedes Studium der Wirklichkeit kühn mit einem Tabu belegten: Warum sollte man die Grundlagen erschüttern und unnötige Zweifel hervorrufen, wenn die Geschichte uns doch auf jeden Fall zum vorbestimmten Ziel führte? Wenn die Hohepriester so fest zusammenhalten, haben Abweichler keinerlei Gnade zu erwarten. Buchanin war keineswegs ein Abweichler, aber er ahnte, wie unausweichlich für ihn die Grube war, in die ihn seine Zweifel hineinziehen würden.

= So schrecklich auch der Terror der ersten Tage gewesen war, man konnte ihn doch nicht mit der planmäßigen Massenvernichtung vergleichen, der die Bürger des mächtigen Staates „neuen Typs“ nach den Gesetzen, Instruktionen, Verfügungen und Erklärungen ausgesetzt waren, die einfach „von oben“ erlassen wurden.

= Anfang der dreißiger Jahre wollte sich Bucharin auf der Suche nach „Verbindung zu anderen Rädern der Maschinerie“ an Gorkij wenden, um ihn über Mandelstams Situation zu informieren. Vergebens versuchte Ossip Mandelstam, ihn von der Nutzlosigkeit diese Versuches zu überzeugen. Wir erzählten ihm sogar die alte Geschichte mit den Hosen: Als Mandelstam aus der von Wrangel besetzten Krim über Georgien zurückkehrte, wurde er zweimal verhaftet und kam mehr tot als lebendig, ohne warme Kleidung in Leningrad an. Damals konnte man keine Kleider kaufen, sie wurden nur gegen Berechtigungsschein ausgegeben. Die Berechtigungsscheine für die Kleidung der Schriftsteller mußten von Gorkij befürwortet werden. Als man ihm die Bitte vortrug, Mandelstam eine Hose und einen Sweater zuzuteilen, strich Gorkij die Hose aus und sagte: „Er muß ohne sie auskommen.“ Niemals sonst strich er eine Hose vom Berechtigungsschein, und viele Schriftsteller, die später zu den Mitläufern gehörten, erinnerten sich an Gorkijs väterliche Fürsorge. Die Hose, das war eine Kleinigkeit, aber diese Kleinigkeit zeugte von der feindlichen Haltung Gorkijs gegenüber einer ihm fremden Literaturströmung; hier handelte es sich auch wieder um die „schwächlichen Intelligenzler“, die es nur dann zu bewahren galt, wenn die über grundlegende, breitgefächerte Kenntnisse verfügten.

= Mich rettete der Zufall. Unser Schicksal wurde allzu häufig von Zufällen entschieden; meist waren sie verhängnisvoll, und Zufall bedeutete häufig Tod. Ich habe von vielen solchen Zufällen gehört, als ich stundenlang Schlange stand, um Mandelstam Geld zu schicken oder eine Auskunft von der Staatsanwaltschaft zu erhalten. Nie werde ich die Frau vergessen, deren Sohn zufällig anstatt des gleichnamigen Nachbarn, der gerade nicht zu Hause war, verhaftet wurde. Der Frau gelang es, bei irgendeiner Stelle vorzusprechen und zu beweisen, daß in dem Haftbefehl, mit dem man ihren Sohn abgeholt hatte, der Vorname und der Vatersname seines Nachbarn aufgeführt waren. Sie mußte Berge versetzen, um nur das zu erreichen. Die Freilassung ihres Sohnes war bereits angeordnet, als sich herausstellte, daß er nicht mehr am Leben war. Er starb durch einen seltsamen Zufall, während sein Nachbar durch Zufall am Leben blieb und sich versteckt halten konnte.