Ein politischer Tiefpunkt

Zunächst erfuhr ich von einer Meinungsumfrage, bei der 41 Prozent der befragten Deutschen äußerten, dass die Juden zuviel über den Holocaust reden und das 25 Prozent antisemitische Gedanken hegen und dass 22 Prozent der Meinung sind, dass die Juden wegen ihres Verhaltens gehasst würden.

Vor 17 Jahren habe ich in einem Nachwort zu Götz Alys Buch „Im Tunnel“ geschrieben: „…… andere versuchen Entlastung zu bewirken, indem sie die unmäßige Überhäufung der Deutschen mit der nun schon Jahrzehnte zurückliegenden Schuld und Schande beklagen. Sie bemängeln, dass die Verbrechen, die andere a n Deutschen oder auch an anderen Völkern begingen, zu geringe Aufmerksamkeit zuteil werde. Die Lügner, Verschleierer und Realitivierer schätzen auch das folgende Argument: Das Gerede über die Nazi-Verbrechen verhindere das Wiederfinden der deutschen Identität und sorge dafür, dass Deutsche vor lauter Bücklingen vor dem Ausland einen krummen Rücken und einen Hass auf ihr eigenes Land bekämen. Was für ein Unsinn ! Ich beschäftige mich seit vielen Jahren mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts, einschließlich all seiner dunklen Seiten. Dennoch und gerade deshalb betrachte ich Deutschland als mein Vaterland und mich als deutschen Patrioten. Meine Zuneigung gilt den tausenden politisch, wirtschaftlich und sozial tätiger Deutschen, die sich gegen Atombomben, für Behinderte oder kriegsversehrte Kinder einsetzen. Mein Respekt gilt den ehrenamtlichen Sporttrainern und jenen, die Wärmestuben betreuen, Hausaufgabenhilfe für ausländische Kinder leiten oder Folteropfern helfen. Als Fussballer drücke ich jedem deutschen Verein die Daumen, wenn es gegen ausländische Mannschaften geht; ich bin stolz auf deutsche Philosophen, Musiker, Maler, Poeten und Wissenschaftler; selbst unsere gescholtenen Politiker möchte ich nicht eintauschen, denn Deutschland ist ein funktionierender Rechtsstaat mit einer vorbildlichen Verfassung. Eine solche Einstellung zu meinem Land und meinen Landsleuten wäre mir unmöglich, wenn ich die deutschen Verbrechen ausblenden oder relativieren würde. Oder, wie Gesine Schwan es formuliert hat:

„Verlieren wir unsere Würde, wenn wir uns erinnern oder gewinnen wir diese Würde gerade durch das Erinnern zurück ?“

Um einer wahrhaftigen Erinnerung willen darf es auch keine Denkverbote oder Tabus geben. Selbstverständlich ist über die Vertreibung der Deutschen zu reden, über Zwangsarbeit, die Deutsche nach dem 2. Weltkrieg leisten mussten, über Flächenbombardements deutcher Städte oder über den verfehlten Frieden von Versailles. An unendlich viele Menschen, die der politischen Gewalt zum Opfer fielen, muss erinnert werden.“

Das war vor 17 Jahren. Seitdem haben seriöse Historiker die Naziverbrechen weiter erforscht und dokumentiert. Ja ! Deutsche haben diese Massenverbrechen begangen ! Das heißt doch nicht, dass die nachfolgenden Generationen Verbrecher sind ! Lasst Euch das nicht einreden ! Wir haben die Pflicht, die Nazizeit bis ins Detail zu erforschen, die Opfer um Verzeihung zu bitten und soweit möglich zu entschädigen.

U n d wir müssen um alles in der Welt daraus lernen ! Im eigenen Interesse und im Interesse unserer Kinder und im Interesse Deutschlands und im Interesse unserer Nachbarländer bzw. Europas.

Primo Levi hat gesagt „Es ist passiert – also kann es wieder passieren.“ Bis zur Gründung der AfD war ich fest überzeugt, dass Primo Levi falsch liegt; die Erfolge der AfD haben meine Überzeugung untergraben und die oben erwähnte Umfrage hat mich schockiert.

Und dann kam gestern auch noch das Wahlergebnis aus Thüringen dazu. Man muss sich das auf der Zunge zergehen lassen: Von allen Wahlberechtigten haben 35 Prozent nicht gewählt und 19 Prozent der Wahlberechtigten haben die linksradikale Linke und 16 Prozent der Wahlberechtigten haben die rechstradikale AfD gewählt. Die demokratischen Parteien (CDU, SPD, Grüne u. FDP) haben zusammen etwa 29 Prozent der Wahlberechtigten gewählt.

Die Erkenntnis aus dieser Wahl und der o.g. Umfrage ist deprimierend. Aber wir dürfen nicht aufgeben. Wir kämpfen für unsere Demokratie und unseren Rechtsstaat. Meldet Euch in den demokratischen Parteien an ! Wir kämpfen für ein noch stärkeres Europa ! So wie wir z.B. die Jahrhunderte andauernde Erbfeindschaft mit Frankreich endgültig begraben haben – so werden wir hoffentlich auch mit allen anderen europäischen Ländern Freundschaft schließen und dabei immer auch Verständnis für das Leid oder die Macken und die kulturelle Vielfalt dieses Nachbarn aufbringen.

„Das Europa der Kriege und der kolonialistischen Expansion haben wir überwunden. Am geistigen Europa, dem Europa der Künstler und Gelehrten, aber gilt es festzuhalten.“ (Jan Assmann)