Eine wunderbare Geschichte

B. Brecht: Der verwundete Sokrates (Auszüge)

Sokrates, der Sohn der Hebamme, der in seinen Zwiegesprächen so gut und leicht und unter so kräftigen Scherzen seine Freunde wohlgestalter Gedanken entbinden konnte und sie so mit eigenen Kindern versorgte, anstatt wie andere Lehrer ihnen Bastarde aufzuhängen, galt nicht nur als der klügste aller Griechen, sondern auch als einer der tapfersten. Der Ruf der Tapferkeit scheint uns ganz gerechtfertigt, wenn wir beim Platon lesen, wie frisch und unverdrossen er den Schierlingsbecher leerte, den ihm die Obrigkeit für die seinen Mitbürgern geleisteten Dienste am Ende reichen ließ. Einige seiner Bewunderer aber haben es für nötig gehalten, auch noch von seiner Tapferkeit im Felde zu reden. Tatsächlich kämpfte er in der Schlacht bei Delion mit, und zwar bei den leichtbewaffneten Fußtruppen, da er weder seinem Ansehen nach, er war Schuster, noch seinem Einkommen nach, er war Philosoph, zu den vornehmeren und teueren Waffengattungen eingezogen wurde. Jedoch war, wie man sich denken kann, seine Tapferkeit von besonderer Art.

Sokrates hatte sich am Morgen der Schlacht so gut wie möglich auf das blutige Geschäft vorbereitet, indem er Zwiebeln kaute, was nach Ansicht der Soldaten Mut erzeugte. Seine Skepsis auf vielen Gebieten veranlasste ihn zu Leichgläubigkeit auf vielen anderen Gebieten; er war gegen die Spekulation und für die praktische Erfahrung, und so glaubte er nicht an die Götter, wohl aber an die Zwiebeln.

Man ließ sich auf dem Stoppelboden nieder, und ein Hauptmann wies Sokrates zurecht, weil er versucht hatte, sich auf seinen Schild zu setzen. Mehr als der Anschnauzer selbst beunruhigte ihn die gedämpfte Stimme, mit der er erfolgte. Der Feind schien in der Nähe vermutet zu werden.

Es war richtig, dass man die Stadt verteidigen musste, wenn sie angegriffen wurde, da man sonst dort großen Ungelegenheiten ausgesetzt war, aber warum wurde die Stadt angegriffen ? Weil die Reeder, Weinbergbesitzer und Sklavenhändler in Kleinasien den persischen Reedern, Weinbergbesitzern und Sklavenhändlern ins Gehege gekommen waren ! Ein schöner Grund ! Plötzlich saßen alle wie erstarrt. Von links aus dem Nebel kam ein dumpfes Gebrüll, begleitet von einem metallenen Schallen. Es pflanzte sich ziemlich rasch fort. Der Angriff des Feindes hatte begonnen.

Die Abteilung stand auf. Mit herausgewälzten Augen stierte man in den Nebel vorn. Zehn Schritte zur Seite fiel ein Mann in die Knie und rief lallend die Götter an. Zu spät, schien es Sokrates. Plötzlich, wie eine Antwort, erfolgte ein schreckliches Gebrüll, weiter rechts. Der Hilfeschrei schien in einen Todesschrei übergegangen zu sein. Aus dem Nebel sah Sokrates eine Eisenstange geflogen kommen. Ein Wurfspeer !

Und dann tauchten, undeutlich im Dunst, vorn massive Gestalten auf: Die Feinde. Sokrates, unter dem überwältigenden Eindruck, dass er schon zu lange gewartet hatte, wandte sich schwerfällig um und begann zu laufen. Der Brustpanzer und die schweren Beinschienen behinderten ihn beträchtlich. Sie waren viel gefährlicher als Schilde, da man sie nicht wegwerfen konnte. Keuchend lief der Philosoph über das Stoppelfeld. Alles hing davon ab, ob er genug Vorsprung gewann. Hoffentlich fingen die braven Jungen hinter ihm den Stoß für eine Zeit auf.

Plötzlich durchfuhr ihn ein höllischer Schmerz. Seine linke Sohle brannte, dass der meinte, es überhaupt nicht aushalten zu können. Er ließ sich stöhnend zu Boden sinken, ging aber mit einem neuen Schmerzensschrei wieder hoch. Mit irren Augen blickte er um sich und begriff alles. Er war in ein Dornenfeld geraten ! Sokrates konnte die Sandale nicht herunterbekommen. Der D o r n hatte die dünne Ledersohle durchbohrt und stak tief im Fleisch. In diesem Moment hörte er dumpfe Tritte. Ein kleiner Trupp brach durch das Gestrüpp. Den Göttern sei Dank, es waren eigene ! Sie blieben einige Sekunden stehen, als sie ihn sahen. „Das ist der Schuster“, hörte er sie sagen. Dann gingen sie weiter.

Aber links von ihnen kam jetzt auch Lärm. Und dort tönten Kommandos in fremder Sparche. Die Perser ! Als die sich auf wenige Schritte genähert hatten, saß der Philosoph auf dem Hintern zwischen zwei Dornsträuchen, hilflos dem Feind entgegenblickend. Es war unmöglich für ihn, sich zu bewegen. Alles war besser, als diesen Schmerz im Fußballen noch ein einziges Mal zu spüren. Er wusste nicht, was machen, und plötzlich fing er an zu brüllen: „Hierher, dritte Abteilung ! Gebt ihnen Saures, Kinder !“ Und gleichzeitig sah er sich, wie er das Schwert fasste und es im Kreise um sich schwang, denn vor ihm stand, aus dem Gestrüpp aufgetaucht, ein persischer Soldat mit einem Spieß. Der Spieß flog zur Seite und riss den Mann mit.

Und Sokrates hörte sich zum zweiten Mal brüllen und sagen: „Keinen Fußbreit mehr zurück Kinder ! Jetzt haben wir sie, wo wir sie haben wollen, die Hundesöhne ! Krapolus, vor mit der sechsten ! Nullos, nach rechts ! Zu Fetzen zerreiße ich, wer zurückgeht !“ Von der Lichtung her stolperten ein Dutzend Erschöpfte. Die Perser hatten sich auf das Gebrüll hin zur Flucht gewandt. Sie fürchteten einen Hinterhalt.

„Was ist hier?“ fragte einer der Landsleute Sokrates, der immer noch auf dem Boden saß. „Nichts“, sagte dieser. „Steht nicht so herum und glotzt nicht auf mich. Lauft lieber hin und her und gebt Kommandos, damit man drüben nicht merkt wie wenige wir sind.“

„Besser, wir gehen zurück“, sagte der Mann zögernd. „Keinen Schritt“, protestierte Sokrates. „Seid ihr Hasenfüsse ?“.

Und da es für den Soldaten nicht genügt, wenn er Furcht hat, sondern er auch Glück haben muss, hörte man plötzlich von ziemlich weit her, aber ganz deutlich, Pferdegetrappel und wilde Schreie, und sie waren in griechischer Sprache ! Jedermann weiß, wie vernichtend die Niederlage der Perser an diesem Tag war. Sie beendete den Krieg.

Als Alkibiades an der Spitze der Reiterei an das Dornenfeld kam, sah er, wie eine Rotte von Fußsoldaten einen dicken Mann auf den Schultern trug. Sein Pferd anhaltend, erkannte er den Sokrates in ihm, und die Soldaten klärten ihn darüber auf, daß er die wankende Schlachtreihe durch seinen unerschütterlichen Widerstand zum Stehen gebracht hatte.

Sie trugen ihn im Triumph bis zum Train. Dort wurde er, trotz seines Protestes, auf einen der Fouragewagen gesetzt, und umgeben von schweißübergossenen, aufgeregt schreienden Soldaten gelangte er nach der Haupstadt zurück.

Man trug ihn auf den Schultern in sein kleines Haus. Xanthippe, seine Frau, kochte ihm eine Bohnensuppe. Vor dem Herd kniend und mit vollen Backen das Feuer anblasend, schaute sie ab und zu nach ihm hin. Er saß noch auf dem Stuhl, in den ihn seine Kameraden gesetzt hatten.

„Was ist mit dir passiert?“ fragte sie argwöhnisch. „Mit mir?“ mumelte er, „nichts.“ „Was ist das denn für ein Gerede von deinen Heldentaten ?“ wollte sie wissen. „Übertreibungen“, sagte er, „sie riecht ausgezeichnet.“ „Wie kann sie riechen, wenn ich das Feuer noch nicht anhabe ? Du hast dich wieder zum Narren gemacht, wie ?“ sagte sie zornig. „Morgen kann ich dann wieder das Gelächter haben, wenn ich einen Wecken holen gehe.“

„Ich habe keineswegs einen Narren aus mir gemacht. Ich habe mich geschlagen.“ „Warst du betrunken ?“ „Nein, ich habe sie zum Stehen gebracht, als sie zurückwichen.“ „Du kannst nicht einmal dich zum Stehen bringen“, sagte sie aufstehend, denn das Feuer brannte. „Gib mir das Salzfass vom Tisch.“

Der Dorn schmerzte Sokrates wilder denn je. Wenn er die Sandale nicht bald ausbekam, konnte es eine Blutvergiftung werden.

Sokrates schlief schlecht und unruhig, und er erwachte sorgenvoll. Die Sandale hatte er herunter, aber den Dorn hatte er nicht zu fassen bekommen. Der Fuß war stark geschwollen. Seine Frau war heute morgen weniger heftig. Sie hatte am Abend die ganze Stadt von ihrem Mann reden hören. Es mußte tatsächlich irgend etwas stattgefunden haben, was den Leuten so imponiert hatte. Daß er eine ganze persische Schlachtreihe aufgehalten haben sollte, wollte ihr allerdings nicht in den Kopf. Nicht er, dachte sie. Eine ganze Versammlung aufhalten mit seinen Fragen, ja, das konnte er. Aber nicht eine Schlachtreihe. Was war also vorgegangen ?

Früh am Vormittag kamen ein paar junge Leute, Söhne wohlhabener Eltern, sein gewöhnlicher Umgang. Sie behandelten ihn immer als ihren Lehrer, und einige schrieben sogar mit, wnn er zu ihnen sprach, als sei es etwas ganz Besonderes. Sie berichteten ihm, daß Athen voll von seinem Ruf sei. Es sei ein historisches Datum für die Philosophie. Sokrates habe bewiesen, daß der große Betrachtende auch der groß Handelnde sein könne.

„Es ist alles Unsinn, was ihr da redet“, sagte Sokrates mit einem plötzlichen Entschluss. „Ich habe gar nichts gemacht.“

Lächelnd sahen sie ihn an. Dann sagte einer: „Genau, was wir auch sagten. Wir wussten, daß du es so auffassen würdest. Zehn Jahre hat Sokrates die großen Taten des Geistes verrichtet, und kein Mensch hat sich auch nur nach ihm umgeblickt. Jetzt hat er eine Schlacht gewonnen, und ganz Athen redet von ihm. Seht ihr nicht ein, wie beschämend das ist ?“

Die Tür verdunkelte sich, und herein kamen vier Magistratspersonen. Sie blieben mitten in der Stube stehen und einer sagte in geschäftsmäßigem, aber überaus höflichen Ton, er habe den Auftrag, Sokrates in den Areopag zu bringen. Der Feldherr Alkibiades selber habe den Antrag gestellt, es solle ihm für seine kriegerischen Leistungen eine Ehrung bereitet werden.

Sokrates überlegte schnell. Es war ihm etwas eingefallen, was er sagen konnte. Er konnte sagen, daß er sich gestern nacht oder heute morgen den Fuß verstaucht hatte. Zum Beispiel, als ihn die Soldaten von ihren Schultern heruntergelassen hatten. Da war sogar eine Pointe drin. Der Fall zeigte, wie leicht man durch Ehrungen seiner Mitbürger zu Schaden kommen konnte.

Als sein Blick auf Xanthippe in der Küchentür fiel, hatte Sokrates plötzlich keine Lust mehr, seine Geschichte vorzubringen. Sein Fuß war nicht verstaucht.

„Höre, Alkibiades“, sagte Sokrates energisch und mit ganz frischer Stimme, „es kann in diesem Fall nicht von Taperkeit geredet werden. Ich bin sofort, als die Schlacht begann, das heißt, als ich die ersten Perser auftauchen sah, davongelaufen, und zwar in der richtigen Richtung, nach hinten. Aber da war ein Distelfeld. Ich habe mir einen Dorn in den Fuß getreten und konnte nicht weiter. Ich habe dann wie ein Wilder um mich gehauen und hätte beinahe einige von den Eigenen getroffen. In der Verzeiflung schrie ich irgendwas von anderen Abteilungen, damit die Perser glauben sollten, da seien welche, was Unsinn war., denn sie verstehen natürlich nicht Griechisch. Andererseits scheinen sie aber ebenfalls ziemlich nervös gewesen zu sein. Sie konnten wohl das Gebrüll einfach nicht mehr ertragen, nach allem was sie bei dem Vormarsch hatten durchmachen müssen. Sie stockten einen Augenblick, und dann kam schon unsere Reiterei. Das ist alles.“

Einige Sekunden war es sehr still in der Stube. Alkibiades sah ihn starr an. Antisthenes hustete hinter der vorgehaltenen Hand, diesmal ganz natürlich. Von der Küchentür her, wo Xanthippe stand, kam ein schallendes Gelächter. Dann sagte Antisthenes trocken: „Und da konntes du natürlich nicht in den Areopag gehen und die Treppen hinaufhinken, um den Lorbeerkranz in Empfang zu nehmen. Das verstehe ich.“

Alkibiades fragte ihn: „Warum hast du nicht gesagt, du hast irgendeine andere Wunde?“ „Weil ich einen Dorn im Fuß habe“, sagte Sokrates grob. Alkibiades trat an das Bett und sagte: „Schade, daß ich meinen eigenen Kranz nicht mit hergebracht habe. Ich habe ihn meinem Mann zum Halten gegeben. Sonst würde ich ihn jetzt dir dalassen. Du kannst mir glauben, daß ich dich für tapfer genug halte. Ich kenne niemand, der unter diesen Umständen erzählt hätte, was du erzählt hast.“ Und er ging rasch hinaus.

Als dann Xanthippe den Fuß badete und den Dorn auszog, sagte sie übellaunig:

„Es hätte eine Blutvergiftung werden können.“

„Mindestens“, sagte der Philosoph.