Erinnern

Liebe Leser,

wir Deutsche müssen uns hin und wieder an die Verbrechen, die von Deutschen begangen wurden, erinnern. Ich kann Ihnen nicht empfehlen, sich so intensiv und im Detail mit diesen Verbrechen zu befassen, wie ich das über viele Jahre getan habe; möglicherweise gefährden Sie Ihre mentale Gesundheit.

Aus zwei Gründen müssen wir erinnern:

1. Es ist eine selbstverständliche moralische Pflicht – auch für die folgenden Generationen.

2. Aus egoistischen Motiven müssen wir an die Entstehung der Nazi diktatur, die aus einer Demokratie hervorging und für die sich die große Mehrheit unseres Volkes begeisterte, erinnern, damit unsere par 1amentarisehe Demokratie auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten – z.B. mit zehn Millionen Arbeitslosen – am Ruder bleibt und unser Rechtsstaat erhalten bleibt. Das ist angesichts der Tatsache, dass im Jahr 2018 etwa zwanzig Millionen Deutsche (Wähler der Linken und der AfD und ignorante Nichtwähler) gegen diese Demokratie eingestellt sind, obwohl es uns wirtschaftlich besser denn je geht, keine Selbstverständlichkeit.

Wir müssen erinnern.

Der beiliegende FAZ-Artikel „Der hippokratische Eid“ geht unter die Haut. Vorsicht!


Der hippokratische Eid

Die folgende Aufzeichnung ist eine kurze Abschrift aus einem der Interviews, die Claude Lanzmann in den siebziger und achtziger Jahren mit Überlebenden, aber auch einigen Tätern des Holocausts führte. Zwölf Jahre lang war Lanzmann damit beschäftigt, dann erschien sein Film „Shoah“. Er dauert neun Stunden und besteht nur aus Interviews und zeitgenössischen Filmaufnahmen. Auf Archivmaterial wurde nicht zurückgegriffen.

Im vergangenen Jahr hat Lanzmann, der mittlerweile 92 Jahre alt ist, vier dieser Interviews als jeweils abendfüllende Filme unter dem Titel „Vier Schwestern“ vorgelegt. Sie wurden auf „arte“ gesendet. Der erste Film heißt „Der hippokratische Eid“ In ihm erzählt Ruth Elias ihr Schicksal unter den Nazis. Das Interview wurde 1979 geführt. Elias starb vor zehn Jahren in Israel.

1922 war sie als Ruth Huppert in Mährisch-Ostrau zur Welt gekommen, dem heutigen Ostrava in Tschechien. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen konnte sie mit ihrer Familie untertauchen. Sie schlugen sich als Tagelöhner bei Bauern durch. Doch dann wurden sie verraten und in das Konzentrationslager Theresienstadt gebracht. Dort traf Ruth ihren Verlobten wieder. Sie wurde schwanger. Bald darauf deportierte man sie nach Auschwitz.

In dem Interview wird deutlich, dass die junge Frau, deren Eltern, Schwester und Verwandte allesamt ermordet wurden, durch einen besonderen Instinkt mehrfach tödlicher Gefahr entging. Bei der Selektion in Auschwitz gelang.es ihr, die Schwangerschaft vor dem SS-Lagerarzt Josef Mengele zu verbergen. Statt in die Gaskammer wurde sie zusammen mit etwa tausend anderen Frauen zur Zwangsarbeit nach Hamburg geschickt. Erst dort wurde ihre Schwangerschaft entdeckt. Die SS brachte sie zusammen mit einer zweiten Schwangeren zurück nach Auschwitz. Und so schilderte sie, was dann geschah:

Im Frauenlager waren wir dann eine große Sensation. Denn wir beide waren die ersten, die jemals von einem Transport zurückgekehrt waren, der Auschwitz verlassen hatte. Wir hatten nicht geglaubt, dass Transporte aus Auschwitz tatsächlich irgendwohin fuhren. Niemand in Auschwitz glaubte das. Wir waren die ersten lebenden Zeugen, die zurückgekehrt waren. Wir sagten: „Ja, wir waren in Hamburg und haben dort gearbeitet. Wir sind gerade zurückgekehrt.“

Die Nachricht verbreitete sich im gesamten Frauenlager. Wir waren solch eine Sensation, dass Mengele von uns hörte. Er wollte uns sehen. Er kam und ließ uns rufen. Dann begann er zu schreien: „Wie ist es möglich, dass ich zwei schwangere Frauen übersehen habe? Wo wart ihr, als ich .. .“ – er benutzte nicht das Wort „Selektion“, sondern sagte: „Wo wart ihr, als ich die Leute für die Arbeit ausgesucht habe?“

Lanzmann: Wie hat er das genau gesagt?

Auf Deutsch.

Mit welchen Worten?

„Als ich die Leute für die Arbeit ausgesucht habe.“ Ihm war schleierhaft, wie er uns übersehen konnte. Er sagte: „Gut. Entbinden Sie, und dann werden Sie weitersehen.“ Er kam jeden Tag und war ganz reizend. Er wechselte einige Worte mit uns. Ich weiß nicht mehr, worüber. „Wie fühlen Sie sich?“ „Was machen Sie so?“

Wie war er? Ich habe gehört, er war ein sehr gutaussehender Mann?

Er war sehr attraktiv. Sehr charmant. Mit sehr guten Manieren.

War er groß oder klein?

Weder noch. Er war von mittlerer Statur. Weder groß noch klein. Er sah sehr gut aus in seiner Uniform. Und er war sehr selbstbewusst. Sehr selbstsicher

War er jung?

Ja.
Natürlich hatten wir von Mengele gehört. Wir hatten große Angst vor ihm. Meine Zunge war wie gelähmt. Ich brachte kaum ein Wort heraus und antwortete nur auf seine Fragen. Er besuchte uns täglich im Krankenrevier des Frauenlagers. Und eines Nachmittags setzten meine Wehen ein. Ich wusste nicht, dass es Wehen waren. Ich dachte, ich hätte etwas Falsches gegessen. Es gab ja niemand, der mir das erklärt hätte. Im Laufe des Nachmittags wurden die Schmerzen immer stärker.

Im Krankenrevier gab es eine polnische Hebamme, die mich betreute. Sie nahm eine Decke – in den Blocks gab es an einer Seite einen breiten Ofen, und in der Mitte war eine Art Bank, eine sehr lange Bank, über die gesamte Länge des Blocks. Sie breitete eine Decke aus, auf die ich mich legen konnte, und setzte sich zu mir, um den Rosenkranz zu beten. Unterdessen wurden meine Schmerzen immer stärker.

In jener Nacht brachte ich ein wunderschönes, sehr großes Mädchen zur Welt. Die Hebamme half mir. Es gab weder Mull noch heißes Wasser. Es gab gar nichts. Ich lag in meinem eigenen Schmutz, Als das Baby geboren war, besorgte sie von irgendwo her ein Leintuch und legte das Kind neben mich. Am Morgen kam Mengele und sagte: „Dieser Frau muss die Brust bandagiert werden. Sie darf das Kind nicht stillen. Ich will herausfinden, wie lange ein Baby ohne Nahrung leben kann.“ Meine Brüste wurden einbandagiert, und das Baby schrie neben mir vor Hunger, während ich Suppe bekam.

Ich nahm eine kleine Ecke von dem Leintuch, tunkte ein Stück Brot in die Suppe und wickelte es in das Leintuch, das ich meinem Kind in den Mund steckte, denn das Kind war hungrig. So ging das mehrere Tage. Ich bekam hohes Fieber, weil meine Brüste voller Milch waren und ich das Kind nicht stillen konnte. Mengele kam täglich, um seine Forschung zu betreiben: Wie lange kann ein Baby ohne Nahrung überleben.

Wie ich schon sagte, keine Windeln, es war furchtbar. Wir lagen beide in unserem eigenen Schmutz. Das Baby wurde immer dünner, bekam Ödeme. Ein schrecklicher Anblick. Am achten Tag kam Mengele und sagte: „Sei morgen früh um acht mit deinem Kind bereit. Ich werde euch abholen.“

Ich wusste, wenn er uns abholt, bringt er uns zur Gaskammer. Und ich wollte nicht mehr leben. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen. In gewisser Weise war ich froh, diesem Elend zu entkommen. Als am Abend die Lichter ausgingen und es dunkel wurde, wusste ich: Das ist meine letzte Nacht. Mein Kind konnte nicht mehr weinen. Es war furchtbar, seine Stimme zu hören. Die nur noch ein Geräusch war. Kaum ein Geräusch. Ich begann zu weinen, weil ich wusste, morgen werde ich mit meinem Kind sterben. Das Licht ging aus, und ich fing an zu schreien. Denn nachts ist alles noch schrecklicher.

Da kam eine Ärztin und fragte: „Warum schreien Sie so?“ Ich sagte: „Ich werde morgen sterben.“ – „Dann sind Sie diejenige, die aus Hamburg zurückgekehrt ist.“ Ich antwortete: „Ja, ich werde morgen entlassen. Mengele kommt mich abholen.“ Da sagte sie: „Ich werde Ihnen helfen.“

Nach einer halben Stunde kam sie mit einer Injektionsnadel zurück und sagte: „Geben Sie das Ihrem Kind.“ Ich fragte, was das sei, und sie sagte: Morphium. Ich fragte: „Wie kann ich meinem Kind das geben? Soll ich mein eigenes Kind ermorden?“ Sie antwortete: „Ich habe den hippokratischen Eid geleistet. Ich muss Leben retten. Du bist jung. Und ich muss dein Leben reden. Dein Kind wird nicht überleben. Schau es doch an. Aber du bist jung und darfst nicht sterben. Gib das deinem Kind, denn ich kann das nicht. Ich darf es nicht.“

Ich wollte nicht. Aber sie redete auf mich ein, in mich ein. Und je mehr sie auf mich einredete, desto weniger Widerstand hatte ich noch.

Widerstand?

Widerstand. Und so tat ich es dann. Ich gab meinem Kind die Injektion. Sie brachte die Nadel weg, und das Kind lag neben mir im Sterben. Es dauerte vielleicht ein bis zwei Stunden. Bei Tagesanbruch wurden im Krankenhaus immer die Leichen eingesammelt. In Auschwitz gab es jeden Morgen eine Unmenge von Leichen. Sie kamen und nahmen auch mein Kind mit. Sie brachten es fort.

Als um acht Uhr Mengele kam, stand ich schon für den Transport bereit. Er fragte: „Wo ist das Kind?“ Ich sagte: „Es ist heute Nacht gestorben.“ – „Ich will die Leiche sehen.“ Und damit ging er fort. Mir wurde erzählt, er hätte sie gesucht, aber die winzige Leiche in dem großen Haufen nicht gefunden. Das war selbst für Doktor Mengele schwierig.

Als er zurückkam, sagte er auf Deutsch zu mir: „Haben Sie ein Schwein gehabt. Mit dem nächsten Transport gehen Sie weg.“ Genau das waren seine Worte. Schwein gehabt. Aber mit dem nächsten Transport gehen Sie weg. Ich war nicht froh. Ich konnte mich nicht freuen. Ich war gebrochen und wollte nicht mehr leben. Oder doch? Ich wusste nicht, was ich wollte. Ich war so apathisch. Nichts konnte mich erfreuen, überhaupt nichts.