G e d i c h t e

= Bertolt Brecht: Die Liebenden

Sieh jene Kraniche in großem Bogen! Die Wolken, die ihnen beigegeben zogen mit ihnen schon, als sie entflogen aus einem Leben in ein anderes Leben.

In gleicher Höhe und mit gleicher Eile scheinen sie alle beide nur daneben.

Daß so der Kranich mit der Wolke teile den schönen Himmel, den sie kurz befliegen – daß also keines länger hier verweile und keines andres sehe als das Wiegen des andern in dem Wind, den beide spüren, die jetzt im Fluge beieinander liegen.

So mag der Wind sie in das Nichts entführen.

Wenn sie nur nicht vergehen und sich bleiben – solange kann sie beide nichts berühren – solange kann man sie von jedem Ort vertreiben wo Regen drohen oder Schüsse schallen.

So unter Sonn und Monds wenig verchiedenen Scheiben fliegen sie hin, einander ganz verfallen.

Wohin, ihr? – Nirgendhin. – Von wem davon? – Von allen.

Ihr fragt, wie lange sind sie schon beisammen? Seit kurzem. – Und wann werden sie sich trennen? – Bald.

So scheint die Liebe Liebenden ein Halt.

Erich Fried: Die Abnehmer

Einer nahm uns das Denken ab. Es genügt seine Schriften zu lesen und manchmal dabei zu nicken.

Einer nimmt uns das Fühlen ab. Seine Gedichte erhalten Preise und werden häufig zitiert.

Einer nimmt uns die großen Entscheidungen ab über Krieg und Frieden. Wir wählen ihn immer wieder.

Wir müssen nur auf zehn bis zwölf Namen schwören. Das ganze Leben nehmen sie uns dann ab.

Erich Fried: Die Unwissenden

Es heißt die von nichts gewusst hatten waren naiv.

Im Gegenteil: Es war damals sehr praktisch von nichts zu wissen.

Und später dann war es weise von gar nichts gewusst zu haben.

Nur Dummköpfe oder Narren versuchen alles zu wissen.

Und die Suche nach Wissen brachte viele von ihnen ums Leben.

Drum fehlen uns jetzt diese Dummköpfe und diese Narren so bitter.

Erich Fried: Schutthaufen

Der Dichter Ossip Mandelstam wurde zuletzt gesehen in einem Durchgangslager für die Gefangenen bei Wladiwostok im Dezember Achtunddreißig wie er nach Resten von Essbarem suchte in einem Abfallhaufen. Er starb noch vor Jahresende.

Seine Mörder sprachen zu jener Zeit nicht ungern vom „Schutthaufen der Geschichte auf den der Feind geworfen wird.“

So also sah der Feind aus: der todkranke Dichter und so sah der Schutthaufen aus (wie schon Lenin gesagt hat: „Die Wahrheit ist konkret“) Wenn die Menschheit Glück hat werden die Archäologen des Schutthaufens der Geschichte noch etwas vom Heimweh nach Weltkultur ausgraben. Wenn die Menschheit Glück hat werden die Archäologen auf dem Schutthaufen der Geschichte Menschen sein.

Mascha Kaléko: Sonett in Dur

Ich frage mich in meinen stillen Stunden, was war das Leben, Liebster, eh du kamst und mir den Schatten von der Seele nahmst. Was suchte ich, bevor ich dich gefunden?

Wie war mein Gestern, such ich zu ergründen, und sieh, ich weiß es nur noch ungefähr. So ganz umbrandet mich das Jetzt, dies Meer, in das die besten meiner Träume münden.

Vergaß ich doch, wie süß die Vögel sangen, noch eh du warst, der Jahre buntes Kleid. Mir blieb nur dies von Zeiten, die vergangen: Die weißen Winter und die Einsamkeit.

Sie warten meiner, läßt du mich allein. Und niemals wird es wieder Frühling sein.