G e d i c h t e

Erich Fried: Gegen Vergessen

Ich will mich erinnern, daß ich nicht vergessen will, denn ich will sein. Ich will mich erinnern, daß ich vergessen will, denn ich will nicht zu viel leiden.

Ich will mich erinnern, daß ich nicht vergessen will, daß ich vergessen will, denn ich will mich kennen.

Denn ich kann nicht denken, ohne mich zu erinnern, denn ich kann nicht wollen, ohne mich zu erinnern, denn ich kann nicht lieben, denn ich kann nicht hoffen, denn ich kann nicht vergessen, ohne mich zu erinnern.

Ich will mich erinnern an alles was man vergißt, denn ich kann nicht retten, ohne mich zu erinnern, auch mich nicht und nicht meine Kinder.

Ich will mich erinnern an die Vergangenheit und an die Zukunft und ich will mich erinnern wie bald ich vergessen muß und ich will mich erinnern wie bald ich vergessen sein werde.

Theodor Fontane: ALLES STILL !

Alles still ! Es tanzt den Reigen Mondenstrahl in Wald und Flur, und darüber trohnt das Schweigen und der Winterhimmel nur.

Alles still ! Vergeblich lauschet man der Krähe heisrem Schrei. Keiner Fichte Wipfel rauschet, und kein Bächlein summt vorbei.

Alles still ! Die Dorfeshütten sind wie Gräber anzusehn, die, von Schnee bedeckt, inmitten eines weiten Friedhofs stehn.

Alles still ! Nichts hör ich klopfen als mein Herz durch die Nacht – heiße Tränen niedertropfen auf die kalte Winterpracht.

Joseph von Eichendorff: Der Einsiedler

Komm, Trost der Welt, du stille Nacht ! Wie steigst du von den Bergen sacht, die Lüfte alle schlafen, ein Schiffer nur noch, wandermüd, singt übers Meer sein Abendlied zu Gottes Lob im Hafen.

Die Jahre wie die Wolken gehn und lassen mich hier einsam stehn, die Welt hat mich vergessen, da trat`st du wunderbar zu mir, wenn ich beim Waldesrauschen hier gedankenvoll gesessen.

O Trost der Welt, du stille Nacht ! Der Tag hat mich so müd gemacht, das weite Meer schon dunkelt, las ausruhn mich von Lust und Not, bis daß das ewge Morgenrot den stillen Wald durchfunkelt.

Nelly Sachs

Völker der Erde, zerstöret nicht das Weltall der Worte, zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde, O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt – und nicht Einer Blut, wenn er Wiege spricht –

Völker der Erde, lasset die Worte an ihrer Quelle, denn sie sind es, die die Horizonte in den wahren Himmel rücken können.

Rainer Maria Rilke: Der Panther

Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe so müd geworden, daß er nicht mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe und hinter tausend Stäben keine Welt.

Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte, der sich im allerkleinsten Kreise dreht, ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte, in der betäubt ein großer Wille steht.

Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille sich lautlos auf. – Dann geht ein Bild hinein, geht durch der Glieder angespannte Stille – und hört im Herzen auf zu sein.