G e d i c h t e

Erich Kästner: Nachtgesang des Kammervirtuosen

Du meine Neunte letzte Sinfonie! Wenn du das Hemd* anhast mit rosa Streifen….. Komm wie ein Cello zwischen meine Knie, und laß mich zart in deine Seiten greifen!

Lass mich in deinen Partituren blättern. (Sie sind voll Händel, Graun und Tremolo.) Ich möchte dich in alle Winde schmettern, du meiner Sehnsucht dreigestrichnes Oh!

Komm, lass uns durch die Oktavengänge schreiten! (Das Furioso, bitte, noch einmal!). Darf ich dich mit der linken Hand begleiten? Doch beim Crescendo etwas mehr Pedal!

Oh deine Klangfigur! Oh die Akkorde! Und der Synkopen rhytmischer Kontrast! Nun senkst du deine Lieder ohne Worte…. Sag einen Ton, falls du noch Töne hast!

*Anmerkung: In besonders vornehmer Gesellschaft ersetze man das Wort „Hemd“ durch das Wort „Kleid“.

Erich Kästner: Tagebuch eines Herzkranken

Der erste Doktor sagte: „Ihr Herz ist nach links erweitert.“ Der zweite Doktor klagte: „Ihr Herz ist nach rechts verbreitert.“ Der dritte machte ein ernstes Gesicht und sprach: „Herzerweiterung haben Sie nicht.“ Na ja.

Der vierte Doktor klagte: „Die Herzklappen sind auf dem Hund.“ Der fünfte Doktor sagte: „Die Klappen sind völlig gesund.“ Der sechste machte die Augen groß und sprach: „Sie leiden an Herzspitzenstoß.“ Na ja.

Der siebente Doktor klagte: „Die Herzfiguration ist mitral.“ Der achte Doktor sagte: „Ihr Röntgenbild ist durchaus normal.“ Der neunte Doktor staunte und sprach: „Ihr Herz geht dreiviertel Stunden nach.“ Na ja.

Was nun der zehnte Doktor spricht, das kann ich leider nicht sagen, denn bei dem zehnten, da war ich noch nicht. Ich werde ihn nächstens fragen. Neun Diagnosen sind vielleicht schlecht, aber die zehnte hat sicher recht. Na ja.

Marie Luise Kaschnitz: Schreibend

Schreibend wollte ich meine Seele retten. Ich versuchte Verse zu machen. Es ging nicht. Ich versuchte Geschichten zu erzählen. Es ging nicht.

Man kann nicht schreiben um seine Seele zu retten. Die aufgegebene treibt dahin und singt.

Klabund: Liebeslied

Dein Mund, der schön geschweifte, dein Lächeln, das mich streifte, dein Blick, der mich umarmte, dein Schoß, der mich erwarmte, dein Arm, der mich umschlungen, dein Wort, das mich umsungen, dein Haar, darein ich tauchte, dein Atem, der mich hauchte, dein Herz, das wilde Fohlen, die Seele unverhohlen, die Füße, welche liefen, als meine Lippen riefen -: Gehört wohl mir, ist alles meins, wüßt nicht, was mir das Liebste wär, und gäb nicht Höll noch Himmel her:  Eines und alles, all und eins.