Gedichte von Erich Fried

= Die Abnehmer

Einer nimmt uns das Denken ab – es genügt, seine Schriften zu lesen und manchmal dabei zu nicken.

Einer nimmt uns das Fühlen ab – seine Gedichte erhalten Preise und werden häufig zitiert.

Einer nimmt uns die großen Entscheidungen ab über Krieg und Frieden – wir wählen ihn immer wieder.

Wir müssen nur auf zehn bis zwölf Namen schwören – das ganze Leben nehmen sie uns dann ab.

= Was es ist

Es ist Unsinn sagt die Vernunft – es ist was es ist sagt die Liebe.

Es ist Unglück sagt die Berechnung – es ist nichts als Schmerz sagt die Angst. Es ist aussichtslos sagt die Einsicht. Es ist was es ist sagt die Liebe.

Es ist lächerlich sagt der Stolz. Es ist leichtsinnig sagt die Vorsicht. Es ist unmöglich sagt die Erfahrung. Es ist was es ist sagt die Liebe.

= Schutthaufen

Der Dichter Ossip Mandelstam wurde zuletzt gesehen in einem Durchgangslager für die Gefangenen bei Wladiwostok im Dezember Achtunddreißig wie er nach Resten von Eßbarem suchte in einem Abfallhaufen. Er starb noch vor Jahresende.

Seine Mörder sprachen zu jener Zeit nicht ungern vom „Schutthaufen der Geschichte auf den der Feind geworfen wird.“

So also sah der Feind aus: der totkranke Dichter und so sah der Schutthaufen aus (wie schon Lenin gesagt hat: „Die Wahrheit ist konkret“). Wenn die Menschheit Glück hat, werden die Archäologen des Schutthaufens der Geschichte noch etwas vom Heimweh nach Weltkultur ausgraben. Wenn die Menschheit Glück hat, werden die Archäologen auf dem Schutthaufen der Geschichte Menschen sein.

= Die Unwissenden

Es heißt die von nichts gewusst hatten waren naiv

Im Gegenteil: Es war damals sehr praktisch von nichts zu wissen.

Und später dann war es weise von gar nichts gewusst zu haben.

Nur Dummköpfe oder Narren versuchten alles zu wissen.

Und die Suche nach Wissen brachte viele von ihnen ums Leben.

Drum fehlen uns jetzt diese Dummköpfe und diese Narren so bitter.