Herta Müllers Taschentuch

Herta Müller ist unter dem brutalen Diktator Ceausescu im kommunistischen Rumänien aufgewachsen; zwanzig Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer erhielt sie in Stockholm den Literaturnobelpreis. Sie lebte in einem Teufelskreis aus Unterdrückung und Angst und ständiger Überwachung bis hin zu Todesdrohungen durch den Geheimdienst.

Trost erwächst in dieser Verlorenheit aus einem unscheinbaren Gegenstand: einem Taschentuch, wie es die Mutter einst dem Kind jeden Morgen mit auf den Weg gab, gebügeltes und gefaltetes Symbol für eine Geborgenheit, die sich nicht in Worten und Umarmungen auszudrücken vermag. Als man ihr in der Fabrik, wo sie Übersetzerin ist, den Schreibtisch wegnimmt und sie so dazu zwingt, draußen vor der Tür auf der Treppe zu arbeiten, gibt ihr das weiße Quadrat des Taschentuchs, auf das sie sich setzt, in dieser demütigenden Situation die Würde zurück.

Auch Herta Müllers Freund, der Dichter Oskar Pastior, hatte als junger Mann während seiner „Hautundknochenzeit“ in einem sowjetischen Arbeitslager ein Taschentuch-Erlebnis. Eine Russin gab dem Hungernden einen Teller heiße Suppe zu essen und reichte ihm, als seine Nase tropfte, ein Taschentuch. Pastior hob das Stück Stoff „aus Hoffnung und Angst“ ein Leben lang auf.

„Ich wünsche mir, ich könnte einen Satz sagen, für alle, denen man in Diktaturen aller Tage, bis heute, die Würde nimmt. Und sei es die Frage: Habt ihr ein Taschentuch ?“ Mit ihrem Werk hat Herta Müller die Fürsorge und die Zärtlichkeit, die in dieser Frage stecken, nicht nur den Unterdrückten, Verschleppten und Verlassenen, sondern all ihren Lesern mitgegeben.

(Der vorgenannte Text basiert auf einem Artikel der geschätzten Felicitas von Lovenberg von der FAZ)