Jahrestag (Ein Artikel von Albert Camus in der französischen Zeitung „Combat“ vom 7. Mai 1947)

Am 8. Mai 1945 unterzeichnete Deutschland die größte Kapitulation der Geschichte. General Jodl erklärte damals: „Ich glaube, dass der Akt der Kapitulation Deutschland und das deutsche Volk in die Hände der Sieger übergibt.“ Achtzehn Monate später wurde Jodl in Nürnberg aufgehängt. Aber man konnte nicht 70 Millionen Einwohner aufhängen. Deutschland ist immer noch in den Händen der Sieger – letztlich ist dieser Jahrestag kein Tag der Freude. Der Sieg kennt auch Lasten.

Weil Deutschland noch immer auf der Anklagebank sitzt, ist es, vor allem für einen Franzosen, schwer, etwas Sinnvolles zu diesem Thema zu sagen oder zu tun. Vor zwei Jahren sendete das Radio in Flensburg auf Anweisung von Karl Dönitz einen Aufruf, in dem die provisorischen Führer des geschlagenen Reichs ihre Hoffnung äußerten, dass die „Atmosphäre des Hasses, die Deutschland auf der ganzen Erde umgibt, Stück für Stück durch den Geist der Versöhnung zwischen den Nationen ersetzt werden kann, ohne den sich die Welt nicht wieder erheben kann.“ Diese Weitsicht kam fünf Jahre zu spät und die Hoffnung von Dönitz hat sich nur zur Hälfte erfüllt. Der Hass gegen Deutschland wurde durch eine kuriose Gefühlslage ersetzt, in der sich Misstrauen und ein vages Ressentiment mit einer überwunden geglaubten Gleichgültigkeit mischen. Was den Geist der Versöhnung betrifft…………..

Das dreiminütige Schweigen, das auf die Verkündung der deutschen Kapitulation folgte, wird sich also noch unendlich verlängern durch das Schweigen, in dem das besetzte Deutschland seine verstörte Existenz fortsetzt inmitten einer Welt, die ihm nur Geringschätzung zukommen lässt. Das hängt zweifellos damit zusammen, dass der Nazismus, wie alle räuberischen Regime, alles von der Welt erwarten konnte – nur nicht das Vergessen. Der Nazismus war es, der uns den Hass gelehrt hatte. Vielleicht hätte dieser Hass vergessen werden können, denn das Gedächtnis der Menschen verflüchtigt sich schnell, je weiter die Geschichte voranschreitet. Aber die bürokratisch-berechnende Dimension, die peinlich-genaue und gefühlslose Präzision, die für das Hitlerische Regime spezifisch war, sind in allen menschlichen Herzen spürbar geblieben. Die kalten Funktionäre des Hasses werden weniger schnell vergessen als die vom Hass Besessenen. Diese Warnung gilt für alle.

Es gibt daher Dinge, die Menschen meines Alters nie werden vergessen können. Aber keiner unter uns, so glaube ich, würde es an diesem Jahrestag akzeptieren, weiter auf den Besiegten herumzutrampeln. Absolute Gerechtigkeit ist unmöglich, so wie auch der ewige Hass und die ewige Liebe unmöglich sind. Darum muss man zur Vernunft zurückkehren. Die Zeit der Apokalypse ist vorbei. Wir sind in eine Zeit der mittelmäßigen Organisation und der gütlichen Einigung eingetreten. Es ist weise und zeugt vom Bedürfnis nach Glück, wenn wir diese Epoche bevorzugen – auch wenn wir wissen, dass uns die Mittelmäigkeit wieder zur Apokalypse führen wird. Aber die gegenwärtige Atempause erlaubt das Nachdenken, und dieses Nachdenken wiederum muss uns anstatt zur Wiedererweckung des vor sich hindämmernden Hasses im Gegenteil dazu führen, Deutschland und die Dinge im Allgemeinen an den ihnen angemessenen Platz zu rücken.

Wie auch immer unsere inneren Emotionen und die Erinnerung an unsere Revolten aussehen mögen, so wissen wir doch sehr gut, dass der Frieden auf der Welt ein pazifiziertes Deutschland benötigt – und man pazifiziert kein Land, indem man es für immer von der internationalen Ordnung ausschließt. Wenn der Dialog mit Deutschland wieder möglich ist, dann erfordert die Vernunft selbst von uns, dass wir ihn wieder aufnehmen. Aber man muss auch mit derselben Deutlichkeit sagen, dass das deutsche Problem ein sekundäres Problem ist, auch wenn man es manchmal als das wichtigste betrachtet, um unsere Aufmerksamkeit von dem abzulenken, was so sehr ins Auge sticht. Und es sticht ins Auge, dass Deutschland – noch bevor sich das Problem seiner erneuten Gefährlichkeit stellt – ein Spielball zwischen Amerika und Russland ist. Und das einzig dringliche Problem unseres Jahrhunderts ist nunmehr das Einvernehmen oder eben die Feindschaft dieser beiden Mächte. Wenn dieses Einvernehmen erreicht werden kann, dann werden Deutschland und einige andere Länder darin eine vernünftige Zukunft finden. Im gegenteiligen Fall wird Deutschland in eine größere umfassende Niederlage stürzen. Das bedeutet gleichzeitig, dass Frankreich bei jeder Gelegenheit dem Bemühen um Vernunft gegenüber der Machtpolitik den Vorzug geben muss. Man muss heute wählen zwischen den Möglichkeiten, höchstwahrscheinlich wirkungslose Dinge oder mit Sicherheit kriminelle Dinge zu machen. Es scheint mir, dass die Wahl nicht schwer ist.

Dieses Bemühen ist aber auch ein Vertrauensbeweis an sich. Es ist der Beweis dafür, dass man entschlossen genug ist, sich – was immer auch kommen mag – weiter für die Gerechtigkeit und die Freiheit einzusetzen und zu kämpfen. Die Welt von heute ist keine der Hoffnung mehr. Vielleicht werden wir wieder in die Apokalypse zurückfallen. Aber die Kapitulation Deutschlands, dieser Sieg gegen jede Vernunft und gegen jede Hoffnung illustriert für lange Zeit jene Ohnmacht der Gewalt, von der Napoleon mit Melancholie sprach: „Auf die Dauer wird das Schwert immer durch den Geist besiegt.“ Auf die Dauer, ja….. Aber alles in allem ist es doch eine gute Lebensregel zu glauben, dass der freie Geist immer recht behalten wird und letztlich immer triumphieren wird, denn der Tag, an dem er nicht mehr recht behält, würde der Tag sein, an dem die gesamte Menschheit dem Irrtum erliegen und die menschliche Geschichte keinen Sinn mehr haben würde.

(Kommentar: Der wunderbare Albert Camus lebt im Paradies, raucht seine filterlosen Zigaretten, flirtet intensiv mit dem anderen Geschlecht und hat jetzt zum ersten Mal die Hoffnung, dass Frankreich und Deutschland (und Europa) sich von Amerika und Russland emanzipieren und die Apokalypse um tausend Jahre verschieben.)