Jerusalem und drei monotheistische Religionen

Endlich mal interessante und objektive Informationen über Jerusalem und die drei Religionen:

Jerusalem ist eigentlich der optimale Ort, um Atheist zu werden!  Nirgendwo mehr zeigen die Religionen all ihr abgründiges Potential, das in ihnen schlummert.  Unangefochten von allen wissenschaftlichen Erkenntnissen leben hier viele Religiöse in ihren eigenen Wirklichkeitsblasen, welche durch in sich geschlossene Erzählungen am Leben gehalten werden und ihren Anhängern ein wohnliches „Sakrotop“ bieten.

Da gibt es die einen, die fest davon überzeugt sind, daß Jerusalem 3000 Jahre alt ist und schon immer die ewige jüdische Hauptstadt des Volkes Israel gewesen sei.  Dabei nehmen sie nicht zur Kenntnis, daß Jerusalem mindestens viereinhalbtausend Jahre alt ist und daß dort, wo einst der jüdische Tempel stand, in der Bronzezeit ein kanaaähnliches Heiligtum war, wo ein bunter Götterhimmel mit Wetter- und Muttergottheiten verehrt wurde.  Dann gibt es die, die fest davon überzeugt sind, daß dort, wo heute der Felsendom und die Al-Aqsa-Moschee stehen, zuvor nie ein jüdischer Tempel gestanden hat, obwohl noch heute die herodianischen Stützmauern des zweiten jüdischen Tempels für jeden bestens erkennbar sind.  So helfen die Religionen hier wie dort aktiv beim selektiven Erinnern und Verdrängen von Geschichte und beim Konstruieren von Wirklichkeit.

Hier möchte ich nun aber „Stopp“ rufen.  Dieser Blick auf die Religionen ist doch ein sehr verkürzter.  Es wäre so, als ob man dem Fußball unterstellen würde, für Krawalle und Ausschreitungen zu stehen, und dies mit den gut dokumentierten Exzessen der Hooligans begründen würde.  Eine Welt ohne Fußball wäre also eine viel friedlichere ?  Mit dieser Unterstellung würde man Millionen von Fußballspielern- und Fans Unrecht tun, die diesem Sport viel verdanken.  Auch übersähe diese Unterstellung das enorme Friedenspotential, das von diesem völkerverbindenden Sport ausgeht:  Wo staatliche Akteure versagen, vermag der Fußball immer noch Brücken zu bauen.  Gleichwohl muss der Fussball zugeben, dass er ein Hooligan-Problem hat.

So verhält es sich auch mit den Religionen:  Wir haben ein massives Hooliganismus-Problem,  besonders in Jerusalem.  Aber der Hooliganismus ist nicht das Eigentliche der Religionen, sondern eine unappetitliche Schattenseite.  Wie es aber der Fußball nicht verdient hat, auf seine Hooligans reduziert zu werden, so auch nicht die Religionen.  Was aber ist das Eigentliche der Religionen ? Um im Bild des Fußballs zu bleiben:  Beim Fussball ist es die Leidenschaft für das Spiel, bei den Religionen die Leidenschaft für die Gottsuche  –  dem Kern aller Religionen.

Das Kämpfen mit Gott, das Zweifeln an Gott, das Sehnen nach Gott, das Ringen mit ihm, das Von-ihm-überwältigt-Sein, das Von-ihm-gerufen-Sein – gerade die Regula Benedicti, nach der ich als Benedictinermönch schon seit fast 15 Jahren zu leben versuche, macht diesen Gedanken sehr stark.  In Jerusalem durfte ich lernen, dass dieser Gedanke interreligiös anschlussfähig ist:  Ich weiß mich als Gottsucher in einer Stadt voller Gottsucher.

Religion als Gottsuche verstanden hat ein enormes Friedenspotential: Sie bewahrt davor, sein eigenes menschliches Urteil mit dem Gottes gleichzusetzen, sie bewahrt vor Schubladendenken und jeder Form von Menschenverachtung und sie schenkt den demütigen Blick, dass man selbst ein verwunderter Ringender ist, der auf Gottes Barmherzigkeit hofft und darauf, von ihm einmal gefunden zu werden.  Verbunden mit dem biblischen Gedanken der Gottesebenbildlichkeit des Menschen ist jede Gottsuche untrennbar mit der Menschensuche verbunden: Dieser Gedanke verbietet mir, mit einem Menschen fertig zu werden oder ihn aufzugeben, sondern drängt zum Mitgefühl und zur ständigen Versöhnungsbereitschaft. Gerade im Umgang mit menschlichem Versagen und Scheitern haben Religionen Zukunft ermöglichende Antworten.

So wie der Fußball sich den Problemen mit seinen Hooligans stellen muss, so müssen es auch die Religionen.  Sie müssen klarmachen, dass sie sich nicht dafür hergeben. scheinbar zweifelsfreie Antworten von der Stange auf alle Fragen des Lebens zu geben, sondern dass sie stattdessen weise Lebensorientierung anbieten können, welche die geduldige Bereitschaft abverlangt, sich täglich neu fragend auf den Weg zu Gott, zu den Mitmenschen und zu sich selbst zu machen.

Nicht weniger problematisch, als die Religionen zu dämonisieren, ist auch die Tenden, Religion zu infantilisieren.  Sie wird dann zu einem gefühligen, gesellschaftlichen Zuckerguss verharmlost, der für eine gewisse emotionale Wärme sorgen soll.  Interessanterweise verbinden sich gerne beide Tendenzen:  Gerade die Religions-Hooligans haben oft einen erschreckend niedrigen theologischen Wissensstand und eine meist nur sehr oberflächliche Gebets- und Glaubenspraxis.  Wenn national-religiöse jüdische Extremisten am Sabbat Cola-Flaschen nach mir werfen, Terroristen des „Islamischen Staats“ nicht wissen, was im Koran steht, und deutsche Bürger, welche nicht in der Lage sind zu sagen, was Christen an Ostern feiern, das christlische Abendland verteidigen wollen, ist das mehr als nur eine traurige Realsatire auf ihre eigen religiöse Identitätsbestimmung.  Es demonstriert, dass diese Menschen nicht im Namen ihrer jeweiligen Religion agieren können.

Je komplexer unsere Welt zu Tage tritt, desto notwendiger sind Multiplikatoren in den Religionen, die sich der Problematik des Umgangs mit Heiligen Schriften bewusst sind, die wissen, dass Bibel, Talmud und Koran in sich vielstimmige Schriften sind, die in ihrer Kontext-Bezogenheit auch heute noch Hilfestellungen für gesellschaftliche und politische Fragestellungen geben können, sich aber einer kontextlosen politischen Vereinnahmung verweigern. Es ist notwendig, dass es Theologen gibt, die um die geschichtliche Gewordenheit und die Vielstimmigkeit der verschiedenen Strömungen innerhalb des Judentums, des Christentums und des Islams wissen, damit sie immun sind gegen eine plakative Vereinfachung dieser drei faszinierenden monotheistischen Weltreligionen.

Es ist notwendig, dass es im Dialog engagierte Menschen gibt, welche im jüdisch-christlichen Dialog den Islam mitdenken und im christlich-islamischen Dialog das Judentum mitdenken und die in der katholisch-evangelischen Ökumene die Ostkirche mitdenken und im katholisch-orthodoxen Dialog die Kirchen der Reformation mitdenken und die im Dialog mit der säkularen Welt die Religionen mitdenken und im Dialog mit den Religionen die säkulare Welt.

Wir brauchen diese kompetenten und leidenschaftlichen Stimmen gegen jegliche Form von Religions-Hooliganismus.  (Pater Nikodemus C. Schnabel OSB)