Jewgenia Ginsburg – Gratwanderung

„Gratwanderung“ ist eines der bedeutendsten Zeugnisse der Menschheitsgeschichte unseres Jahrhunderts, ein Bericht über Humanität und Hoffnung selbst in den finstersten Zeiten, selbst an den schrecklichsten Orten.

Achtzehn Jahre verbrachte Jewgenia Ginsburg als Gefangene und Strafkolonistin in Sibirien. Ihr Buch schildert das Leben in den Höllenkreisen des stalinistischen Infernos, das zugleich konkrete und surreale Universum der Lager: die Foltergefängnisse, die Gettos der Kriminellen, die Heime für die Kinder der Deportierten, die Krankenhäuser, in denen die Zwangsarbeiter aus den Bergwerken eines langsamen Todes sterben, die aus dem Boden gestampften Städte wie das Verwaltungszentrum Magadan. Hier ist alles möglich, wozu Menschen fähig sind. Der Mensch kann bis auf die Stufe des Tieres herabsinken, sich selbst verstümmeln, andere brutal ausnutzen – und dennoch gibt es selbst in dieser Hölle noch Glück im Unglück, Liebe, Zärtlichkeit, Vertrauen.

Das ist es insbesondere, was das Buch der Ginsburg so sehr auszeichnet: ihre Menschlichkeit und ihre Integrität, ihr Humer, ihre bedingungslose Wahrhaftigkeit und ihre nie ganz zu erschütternde Hoffnung aus bessere, humanere Zeiten. Jewgenia Ginsburg schrieb ihre Erinnerungen, dieses Zeugbnis eines Überlebens, im Bewußtsein, daß ohne die Wahrheit über die Vergangenheit keine Zukunft möglich ist.

Selbst das Schicksal ihres Manuskripts ist abenteuerlich: Ein erster Teil wurde außerordentlich rasch im Samisdat verbreitet und 1967 im Ausland veröffentlicht (deutsch unter dem Titel „Marschroute eines Lebens“). 1977 war der umfangreichere, hier vorliegend zweite Teil, der die Jahre 1940 bis 1956 umfaßt, vollendet.

„Jewgenia Ginsburgs Buch ist ein Dokument von starker und hoher Menschlichkeit. Von der ersten bis zur letzten Zeile atmet es absolute Aufrichtigkeit, nirgends ein falscher oder greller Ton, keine tränenselige Sentimentalität… Die ganz eigenartige Dynamik ihres Stils fesselt so stark, daß, wer einmal zu lesen begonnen hat, das Buch nicht mehr aus der Hand legt.“
Die „FAZ“ über den ersten Teil der Erinnerungen

Jewgenia Ginsburg, geboren 1906 in Moskau, Dozentin für Geschichte an der Universität Kasan; Mitglied der KPdSU; wurde 1937 des „Terrorismus“ bezichtigt, verhaftet und vor ein Militärgericht gestellt, nach zwei Jahren im Moskauer Butyrki-Gefängnis wurde sie nach Sibirien deportiert; nach achtzehn Jahren Gefängnis und Lager wurde sie 1955 rehabilitiert; sie starb 1977 in Moskau. Einer ihrer Söhne ist der bekannte Schriftsteller Wassilij Aksjonow.