Länderportrait Italien

Von Walther Seinsch

Im Winter 2014/15 schickte der italienische Finanzminister eine ganze Brigade von Steuerfahndern in die mondänen Skiorte der Alpen; die Anweisung lautete: Notiert die Autonummern aller Oberklassewagen mit italienischem Kennzeichen, ermittelt die Namen der Besitzer und prüft, welches Einkommen diese Leute dem Finanzamt gemeldet haben.

Wenn also jemand einen Daimler der E-Klasse fährt und ein Jahreseinkommen von 20.000 Euro angegeben hat, dann handelt es sich um einen Steuerhinterzieher; der bekommt dann unter Strafbefehl eine Nachzahlung von 40.000 Euro zugestellt, danach lassen wir uns auf 25.000 Euro herunterhandeln und die Sache ist abgeschlossen.

Auch der Wert der Privatwohnung oder Villa wird als Grundlage für die Bemessung der Einkommenssteuer herangezogen. Es gibt deshalb nicht wenige begüterte Italiener, die in einer Etagenwohnung leben und einen Fiat vor der Haustür stehen haben.

Seit Gründung der italienischen Republik nach dem Zweiten Weltkrieg ist Steuerhinterziehung Volkssport und man kann vermuten, dass niemand dieser Sportler auch nur die geringsten moralischen Skrupel hat.

Es geht hier aber nicht um Moral, denn zweifellos würde jeder Deutsche in einer Etagenwohnung und nicht in einem Haus wohnen, wenn er damit viel „Steuergeld“ sparen könnte. Es geht darum, dass Italien in über 60 Jahren keine politische und rechtsstaatliche Stabilität erreicht hat.

Im Januar 2016 haben viele Europäer über die Story gelacht, dass in der Stadtverwaltung San Remo zahlreiche Mitarbeiter morgens pünktlich eintreffen und die Stempeluhr bedienen – dann aber sofort wieder weggehen, um ihre zweite Arbeitsstelle aufzusuchen; abends kommen sie natürlich zur Stadtverwaltung zurück, um wieder zu stempeln. Ein im Gebäude der Stadtverwaltung wohnender Mitarbeiter erschien in der Unterhose an der Stempeluhr, um dann sofort wieder ins Bett zu kriechen. Der Clou an diesem Beispiel ist aber die Tatsache, dass solche Stempeluhr-Aktivitäten (und andere Betrügereien) schon in den fünfziger Jahren z.B. in Neapel gemeldet wurden und dass der Staat in sechs Jahrzehnten versagt hat.

Alle politischen Parteien und alle Gewerkschaften und andere Interessengruppen waren bis zur Wahl Renzis korrupt bis in die Haarspitzen, wobei die Befriedigung von Gruppeninteressen im Vordergrund stand. Jede Partei hatte einen linken, einen rechten und einen mittleren Flügel; sollte also ein „linkes“ Gesetz durch das Parlament, so musste der mittlere und der rechte Flügel mit Vergünstigungen für deren Führungspersonal oder deren Klientel gewonnen werden.

Es gab drei Gewerkschaften: eine kommunistische, eine sozialdemokratische und jeweils eine Fachgewerkschaft. Jede der großen Gewerkschaften hatte wiederum einen gemäßigten und einen radikalen Flügel; alle Gewerkschaftsbosse und deren Familienmitglieder oder Heimatregion mussten mit Jobzusagen oder „Subventionen“ befriedigt werden.

  • „Da gibt es die ewige Baustelle der A3, der Autobahn zwischen Salerno und Reggio Calabria, der Hauptachse im Mezzogiorno. Die Arbeiten haben vor 49 Jahren begonnen und halten noch immer an.“ (S.Z.)
  • „Italien richtet sich in der Opferrolle ein“ – „Alle politischen Lager Roms sind sich einig: Schuld an der wirtschaftlichen Misere hat Deutschland.“ (F.A.Z.)
  • „Die Aufkaufprogramme der EZB senken den Zinsaufwand für den italienischen Staat um fast fünfzig Prozent; das wird zweistellige Milliardenbeträge für Schuldtilgung und Investitionen freisetzen.“
  • „Der Zorn des Südens auf das Vierte Reich“ – zwei Journalisten schreiben einen Essay, der auf der Bestsellerliste ganz vorne steht: „Come la Germania ha sottomesso l’Europa – wie Deutschland Europa unterworfen hat.“ → „Deutschland verbirgt seine imperialen Interessen hinter einer seelenlosen Technokratie. Es gibt keinen Grund dieses neue „Reich“ zu bewundern.“
  • „Wo Italien Geld verschwendet. Ungehört verhallten auch die Vorschläge der Reformen für Einsparungen mit einer Reduzierung: der 8000 Kommunen; der 869 Außenstellen der Zentralverwaltung; der 110 Provinzen (Bundesländer); der fünf Polizeiorganisationen mit Kosten von 20 Milliarden Euro im Jahr; der 32.000 öffentlichen Institutionen; der 11.000 Datenverarbeitungszentren in öffentlicher Hand. Gelungen ist dagegen die Begrenzung der Gehälter der Spitzenbeamten, die 150 Prozent mehr verdienen als ihre deutschen Kollegen.“ (F.A.Z.)
  • „Wenn der Bürgermeister um Wunder bittet. – 80 Prozent der Beamten im italienischen Locri sind krank.“ (F.A.Z.)
  • „Die Ordnungshüter hüten das Bett: In Rom melden sich 83,5 Prozent aller Stadtpolizisten am Silvestertag krank – der Premier schäumt, aber malade ist auch die Politik.“ (S.Z.)
  • „Italienerin entführt ihre Kinder aus Deutschland: Deutschlands Jugendämter seien „Institutionen, die in der Nazizeit vom SS-Chef Heinrich Himmler gegründet wurden und deshalb in deutsch-italienischen Sorgerechtsverfahren kein Gehör finden dürften.“ – schreibt ‚La Republica‘.“ (F.A.Z.)

→ Auf diesem widerwärtigen Niveau befinden sich 90 Prozent der italienischen Medien seit 60 Jahren und auch zahlreiche „Intellektuelle“ und politische Kreise versuchen, damit Schritt zu halten.

  • Der italienische Justizminister traut sich was: „Die Gewerkschaft der Richter und Staatsanwälte wehrt sich gegen die Reduzierung des Sommerurlaubs an den Gerichten von 45 auf 30 Tage.“ ; „Der Streit um die Gefahr von Bauschäden beim Bau einer Tiefgarage in Rom dauerte mehr als zehn Jahre und verhinderte den Start von anderen Projekten.“ ; „Die Zahl der an den Gerichten anhängigen Zivilprozesse in Italien erreichte im Jahr 2009 die Schwelle von sechs Millionen.“ (F.A.Z.)
  • Die kommunistische Tageszeitung ‚L’Unità‘ musste mit einem Schuldenberg von 32 Millionen Euro Konkurs anmelden, obwohl sie über die Jahre 60 Millionen Euro an staatlichen Subventionen erhalten hatte. (Im Land Absurdistan)
  • Kein Witz: „Lauter Top-Performer. In Sizilien verrichten Beamte ihre Arbeit offenbar so tadellos, dass sie einen Bonus erhalten – und zwar ausnahmslos alle – jedes Jahr.“ (S.Z.)
  • „Ein Palazzo für einen Euro Monatsmiete. Seit Jahrzehnten vermietet Roms Stadtverwaltung im historischen Zentrum hunderte Wohnungen zu grotesk niedrigen Preisen.“ (S.Z.)

„Die hohen Ausgaben für die „Goldrentner“ sind nie gestutzt worden:

Da wären einmal jene 16377, die früher für die sizilianische Regionalverwaltung gearbeitet haben. Im Durchschnitt bezieht jeder von ihnen 40.000 Euro im Jahr. Dann wären da die Herrschaften Abgeordneten die „Onorevoli“, 1543 insgesamt – die jeweils mehr als 90 000 Euro erhalten. Die 907 Senatorinnen und Senatoren bringen es im Schnitt auf etwa 91.000 Euro. Um die Bediensteten des Parlaments steht es auch nicht wirklich schlecht: 7159 von ihnen erhalten durchschnittlich 55.000 Euro jährlich. Am besten aber muss sich der Ruhestand jener 29 ehemaligen Verfassungsrichter anfühlen, die jeweils mehr als 200.000 Euro ausbezahlt bekommen. Die Bilanzprüfer rechneten aus, dass der italienische Staat jedes Jahr insgesamt 1,55 Milliarden Euro für seine „Goldrentner“ ausgibt. Und zwar konstant, ohne Abstriche, allen Sorgen um die grotesk hohen Staatsschulden zum Trotz.“ (S.Z.)

  • „Rosen für den Paten. Ein spektakuläres Mafia-Begräbnis mitten in Rom blamiert die Stadt, den Staat und die Kirche.“ (S.Z.)
  • Für die Jagd auf Steuerhinterzieher hatten die italienischen Steuereintreiber jahrelang auf Modellrechnungen gesetzt, die für jeden Handwerksbetrieb je nach Stadtviertel oder Angestelltenzahl ein fiktives Einkommen errechneten. Doch in der jahrelangen Konjunkturkrise wurden solche theoretischen Konstrukte unbrauchbar. Rossella Orlandi zeigt nun den Italienern, wie viele Daten die italienischen Finanzbehörden ohnehin über jeden einzelnen Bürger besitzen. Seit einigen Wochen bekommen sie nun zusätzlich auch alle Kontostände aller italienischen Bankkonten mitgeteilt.
  • Zurzeit gilt Italien als eines der korruptesten Länder in Westeuropa und liegt im internationalen Vergleich von „Transparency International“ auf Platz 61 von 161 Nationen, zwischen Oman und Lesotho.

Das ist Italien, das ich verließ. Noch

Stäuben die Wege,

noch ist der Fremde geprellt, stell er

sich, wie er auch will.

Deutsche Redlichkeit suchst du in allen

Winkeln vergebens:

Leben und Weben ist hier, aber nicht

Ordnung und Zucht.

Goethe, Venezianische Epigramme 4

 

Diese Zahlen sagen alles:

Italien OECD-Durchschnitt
BIP Wachstumsdurchschnitt der letzten 5 Jahre in Prozent -1,5 0,8
BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität, Dollar 34700 38100
Staatsausgaben Prozent des BIP 50,5 42,6
Staatseinnahmen Prozent des BIP 47,7 36,7
Bruttoverschuldung Prozent des BIP 144 110,2
Nettoverschuldung Prozent des BIP 117,5 69,9
Export in Prozent des BIP 28,6 53,6
Import in Prozent des BIP 26,3 49,4
Beschäftigung 15 bis 65 Jahre, in Prozent. 55,6 65,2
Beschäftigung Männer in Prozent 64,8 73,1
Beschäftigung Frauen in Prozent 46,5 57,4
Arbeitslosenquote allgemein Prozent 12,2 7,9
Arbeitslosenquote 15-24 Jahre Prozent 40 16,1
Langzeitarbeitslose Prozent 6,9 2,7
Hochschulausbildung in Prozent der 25 bis 64 Jahre alten 15,7 32,2
Öffentliche Ausgaben für Renten Prozent des BIP 17,1 9,2
Öffentliche Ausgaben für Bildung Prozent des BIP 3,1 3,9
Gesamt Ausgaben für Forschung und Entwicklung Prozent des BIP 1,3 2,4
Quelle: OECD Länderbericht Italien vom Februar 2015, Daten für 2013  

 

 

  • „Wir haben keinen Tag gefeiert. Renzi ist der große Gewinner der Europawahl. Das Ergebnis bestärkt ihn in seinem Tatendrang. Sein Land will er hart reformieren.“ (S.Z., 02.06.2014)

„Italiens Ministerpräsident präsentiert sich als Retter Europas. Aber seine Ideen taugen nichts.

Doch was sind für Renzi schon alte Verträge wert oder gar die Reform- oder Sanierungsversprechen früherer italienischer Regierungen, die unbedingt den Euro als Rettungsanker brauchten? Renzi hat Chuzpe, und für ihn zählt vor allem, was in der Tagespolitik und bei den nächsten Wahlen nützlich ist. Wenn die versprochenen Reformen schwierig werden, dann soll sich eben Europa ändern, um die Arbeit der italienischen Politiker zu erleichtern. Wenn es zu kompliziert und langwierig ist, Italien fit zu machen für den globalen Markt, müssen eben traditionelle Instrumente her: mehr Haushaltsdefizite, Abwertung der Währung und Unterstützung von der Zentralbank. Das sind Rezepte, die Italien in den achtziger Jahren an den Rand des Abgrunds geführt haben. Renzi scheint das nicht zu stören. Außerhalb Italiens sollte aber die Frage gestellt werden, ob Renzi mit solchen Rezepten jemals eine Führungsrolle in Europa beanspruchen kann.“ (Thomas Pillen, F.A.Z.)

  • „Verspricht viel, hält wenig: Matteo Renzi. Wenn Frankreich der kranke Mann Europas ist, dann ist Italien der sterbende Mann Europas.“ (Weltwoche)
  • Süddeutsche Zeitung – Großer Artikel 11.02.2015 – Überschrift: „Der Tollkühne. Der 40-jährige Mann hat es geschafft, die Stimmung in dem gelähmten Land zu drehen. Die Regierung bringt Reformprojekte auf den mühseligen Weg.“
  • F.A.Z., 09.04.2015: „Obwohl die Bedingungen ideal wären, lässt der Ehrgeiz der Regierung Renzi nach. Dadurch misslingt es auch, den Schuldenabbau voranzutreiben.“
  • Premier Renzi gelingt im Mai 2015 eine dringend überfällige Schulreform, u.a. mit Investitionen von drei Milliarden Euro in die Volksschule. Ein für Italien niemals für möglich gehaltenes Meisterstück:

„Reformen am öffentlichen Schulwesen hatten es nie leicht in Italien. Doch diesmal verwundert die Vehemenz der gewerkschaftlichen Opposition, vor allem inhaltlich. Renzis Regierung investiert drei Milliarden Euro in die Volksschule – so viel wie kein Kabinett der vergangenen Jahre. Und sie will im Herbst mehr als 100 000 Aushilfslehrer mit befristeten Verträgen anstellen. 2016 sollen 60 000 weitere Lehrpersonen aus dem sogenannten precariato gehoben werden. Dies müsste den Gewerkschaften eigentlich gefallen. Doch die Verbände kritisieren, dass nicht sofort noch viel mehr Hilfskräfte gefördert würden.

Die Reform sieht außerdem vor, dass Fremdsprachen künftig früher unterrichtet werden: Die Italiener gehören zu jenen europäischen Völkern mit den geringsten Fremdsprachenkenntnissen. Renzi führte sein eigenes, leidliches Englisch einmal als Illustration dafür an. Weiter sollen künftig die Fächer Informatik, Kunstgeschichte, Musik und Sport gestärkt werden. Die Schüler sollen auch verstehen lernen, wie die Wirtschafts- und Finanzwelt funktioniert. Sie würden ermutigt, Praktika in Firmen zu absolvieren. Auch das duale System der Berufslehre soll endlich gefördert werden: Die hohe Jugendarbeitslosigkeit drängt Italien auch hier zum Umdenken. Jenen Privatunternehmen, die innovative öffentliche Schulen unterstützen, soll dafür ein Teil der Steuern erlassen werden. (S.Z., Mai 2015)

  • „Gerade hat Renzi am Montag die Wahlrechtsreform durchs Parlament geprügelt und mit seiner Verve die Anfeindungen politischer Gegner bewusst in Kauf genommen.“ (S.Z., 07.05.2015)
  • „Die Omertà brechen. Italiens Premier Renzi setzt hartes Antikorruptionsgesetz durch. Sowohl für Manager als auch für Politiker:

Für Manager börsennotierter Firmen, denen eine gravierende Manipulation der Bücher nachgewiesen werden kann, sieht das Gesetz bis zu acht Jahre Haft vor. Bilanzfälschung gilt als probates Mittel, um die Spuren von Schmiergeld zu verwischen.

Das Strafmaß für korrupte Politiker und Unternehmer wird erhöht, damit auch die Verjährungsfristen länger laufen. Bisher war es oft so, dass Prozesse am verschleppten Gang der Justiz scheiterten. „Ab sofort“, sagt Renzi etwas überschwänglich, „verjährt Korruption nicht mehr.“ (S.Z., 23.05.2015)

Die Süddeutsche Zeitung vom 02.12.2015 schreibt über das Büchlein eines Parry Anderson, der als Gelehrter „mit der schärfsten marxistischen Feder“ vorgestellt wird und der u.a. folgendes absondern darf:

„Das Porträt des verwöhnten, herrischen und skrupellosen Narzissten Renzi ….“

„Deutschlands Stärke komme, so Anderson, weniger aus den Reformen der Agenda 2010 als aus Lohndrückerei.“

→ Renzi und Deutschland müssen viel richtig machen, wenn sie von solchen Typen kritisiert werden.

„Auto blu“: „Vor zwei Jahren, als Renzi die Regierung übernahm, gab es in Italien 56.600 Dienstwagen, die sogenannten „Auto blu“ (wegen des Blaulichts), die zahllosen höheren Beamten, Parlamentariern etc. zur Verfügung standen. Nach dem ersten Jahr Renzi verringerte sich der Auto-blu-Bestand schon auf 20.665 Stück.“

Radikal neue Architektur der Institutionen:

Rom – manchmal ist das Adjektiv „historisch“, das ja gern und oft gebraucht wird, gar nicht zu hoch gegriffen, zum Beispiel in diesem Fall. Das italienische Parlament hat nach 170 Sitzungen und sechs Abstimmungen, verteilt auf zwei Jahre, eine radikal neue Architektur der Institutionen beschlossen. Es ist die größte Reform der italienischen Verfassung seit 68 Jahren. Im Kern geht es darum, dass der Senat entmachtet und damit das alte Zweikammersystem, das Italien mit seinem Hin und Her oftmals blockiert hat, abgeschafft werden soll. „Storico“ eben, historisch.

(S.Z., 14.04.2016)

→ Italien ist noch nicht am Ziel – aber es hat gute Chancen, über einhundert Jahre Feudalismus und Faschismus und über sechzig Jahre korrupte Demokratie zu überwinden. Matteo Renzi ist mit seiner jungen Ministerriege und mit Millionen Unterstützern aus dem „Neuen Italien“ auf dem richtigen Weg. Italien wird mit dem „Renzi-Weg“ seine früheren Stärken wiederfinden.

(Hoffen wir, dass Renzi die Abstimmung über die existentiell wichtige Verfassungsreform im Oktober 2016 gewinnt.)