Nächstenliebe

In Äthiopien sind einzelne Volksgruppen miteinander verfeindet und wenden Gewalt an. Eine friedliche und einheitliche Nation steht in weiter Ferne. In der Hauptstadt Addis Abeba gibt es einen Ort, der angesichts der grassierenden Gewalt wie eine Oase des Friedens anmutet: die German Church School. Hier kennen sie keine Ethnien, sondern nur Kinder. Jedes Kind zählt gleich viel, einerlei, woher es kommt, ob seine Eltern Aids haben, ob es von Geburt an blind ist oder ob es einen Rollstuhl braucht. Was selbstverständlich klingt, ist geradezu unerhört in einem Land, in dem Eltern behinderte Kinder nicht zur Schule schicken, aus Scham oder weil sie die Behinderung für ein Strafe Gottes halten.

Die Christoffel Blindenmission (CBM) schätzt, dass in Äthiopien nur eines von zehn behinderten Kindern in die Schule geht. Äthiopien ist auch das Land, in dem 40 Prozent aller Trachom-Erkrankungen auf der Welt vorkommen – eine bakterielle Augenentzündung, die zur Erblindung schon im Kindesalter führen kann. Deshalb nimmt die 1966 von evangelischen Gemeinden gegründete German Church School blinde und sehbehinderte Kinder in den Regelunterricht auf; 2019 öffnete sie sich auch für Kinder mit anderen Behinderungen. Finanziert wird sie von mehreren Hilfsorganisationen – unter ihnen auch die CBM. Je ein Kind mit und ohne Behinderung bilden vom ersten Tag eines Schuljahres an ein Tandem, die beiden „Buddies“ sind im Unterricht sowie während der Pausen und beim Mittagessen zusammen. Was für die Kinder das Normalste der Welt ist, bringen sie zu Hause ihren Familien bei: Die blinde Freundin ist nicht „anders“, sie kann nur nicht sehen.

Knapp 500 Kinder besuchen die acht Klassen, etwa 35 kann die Schule jedes Jahr aufnehmen, zehnmal so viele möchten kommen. Eltern absagen zu müssen, breche ihm jedes Mal das Herz, sagt der Direktor.

Der von der Schule angestellte Sozialarbeiter Merdassa Kassaye erzählt, wie ein Neuntklässler seit Jahren seine HIV-infizierten Eltern versorgt. Nach dem Ansatz „Community Inclusive Development“ (CBID) wirkt die Schule in die Familien und deren Umgebung hinein, und das ganz praktisch, denn eine Rampe für Rollstuhlfahrer in der Schule ist gut, noch besser sind weitere Rampen in der Stadt.

Allen Widrigkeiten zum Trotz ist der 37 Jahre alte Geletaw Mulu heute ein erfolgreicher Anwalt für Steuerrecht. Der Sohn eines Bauern aus dem äthiopischen Hochland verlor das Augenlicht fast vollständig, als er acht Jahre alt war. Über Verwandte fand er Aufnahme an der German Church School. Er schloss als Jahrgangsbester ab und wurde der erste so stark sehbehinderte Student an einer äthiopischen Uni; weil es dort kein Lernmaterial für ihn gab, teilte er sein Stipendium an der German Church School mit Kommilitonen, die ihm dafür aus den Lehrbüchern vorlasen. Markos Petros, ein ehemaliger Mitschüler, hat ebenfalls seinen Weg gemacht; der schwer Sehbehinderte hat Arbeit als Angestellter in der Stadtverwaltung gefunden. Und Bemnet Shiferaw, eine blinde Absolventin der German Church School, arbeitet als Englisch-Lehrerin an einer Grundschule in Addis Abeba. „Bei 60 Kindern in der Klasse habe ich mehr mit Management zu tun als mit Vokabeln“, sagt sie fröhlich.