Als ich vor über 60 Jahren bei den Jusos landete, haben wir uns vor allem und sehr intensiv mit dem Gulag, den kommunistischen Verbrechen, befasst. Erst einige Zeit später kamen die Nazi-Verbrechen auf die Tagesordnung und mir fielen die Bücher von Primo Levi in die Hände. Levi war als junger Mann zu den Partisanen in Italien gestoßen; bevor er den ersten Schuss abfeuerte, wurde er von Deutschen verhaftet und nach Auschwitz gebracht. Ich zitiere zwei Abschnitte aus seinem Buch „Ist das ein Mensch“:
- Trotz des Grauens von Hiroshima und Nagasaki, der Schande des Gulags, der sinnlosen und blutigen Unternehmung in Vietnam, trotz des Völkerselbstmords in Kambodscha, der Desaparecidos in Argentinien und der vielen grausamen und sinnentleerten Kriege, die sich in der Folgezeit ereignet haben-, das natinalsozialistische System der Konzentrationslager war ein Unikum, sowohl von seinem Umfang her als auch von seiner Beschaffenheit. An keinem anderen Ort und zu keiner anderen Zeit hat man ein derart unerwartetes und derart komplexes Phänomen beobachtet: Niemals sind so viele Menschenleben in so kurzer Zeit mit einer derart luziden Kombination von technischer Erfindungsgabe, Fanatismus und Grausamkeit ausgelöscht worden.
- Ich bin als Nichtgläubiger ins Lager gekommen, und als Nichtgläubiger bin ich befreit worden und habe bis heute so gelebt; die Erfahrung des Lagers, seine entsetzliche Ungerechtigkeit, hat mich in meiner Haltung sogar noch bestärkt. Sie hat mich daran gehindert (und tut es noch heute), an irgendeine Form der Vorsehung oder der transzendentalen Gerechtigkeit zu glauben: Warum die Sterbenden in Viehwaggons ? Warum die Kinder in den Gaskammern ? Ich muss jedoch einräumen, einmal die Versuchung gespürt zu haben (und wiederum: nur eun einziges Mal) nachzugeben, Zuflucht im Gebet zu suchen. Das war im Oktober 1944, im einzigen Augenblick, in dem ich bei klarem Bewusstsein den bevorstehenden Tod wahrgenommen habe: als ich, nackt und eingezwängt unter meinen nackten Gefährten, mit meiner Karteikarte in der Hand, darauf wartete, vor der Kommission zu erscheinen, die mit einem Blick darüber entscheiden würde, ob ich sofort in die Gaskammer mußte oder ob ich kräftig genug war, noch weiterzuarbeiten. Ich wehrte die Versuchung ab: Ich wusste, dass ich mich ihrer, wenn ich überleben würde, schämen müßte.