Nur ein Vogelschiss

Primo Levis Buch „Ist das ein Mensch ?“ war vor über 40 Jahren der Auslöser dafür, dass ich begann, mich intensiv mit der Geschichte Nazi-Deutschlands zu befassen. Bis dahin hatten wir bei der SPD und bei den Jusos vor allem über den kommunistischen Gulag, über die Massenmörder Stalin und Mao und über die Wiederbewaffnung der Bundesrepublik und den Beitritt zur NATO diskutiert.

Wenn ich einige Absätze aus Levis Büchern zitiere, werden Sie, liebe Leser, verstehen, dass mich diese Thema nie mehr losgelassen hat:

  • „Nicht wir, die Überlebenden, sind die wirklichen Zeugen. Das ist eine unbequeme Einsicht, die mir bewusst geworden ist, während ich die Erinnerungen anderer las und meine eigenen nach einem Abstand von Jahren wieder gelesen habe. Wir Überlebenden sind nicht nur eine verschwindend kleine, sondern auch eine anomale Minderheit; wir sind die, die aufgrund von Pflichtverletzung, aufgrund ihrer Geschicklichkeit oder ihres Glücks den tiefsten Punkt des Abgrunds nicht berührt haben. Wer ihn berührt hat, konnte nicht mehr zurückkehren, um zu berichten, oder er ist stumm geworden.“
  • „Einmal habe ich die Versuchung gespürt (ein einziges Mal), Zuflucht im Gebet zu suchen. Das war im Oktober 1944, im einzigen Augenblick, in dem ich bei klarem Bewusstsein den bevorstehenden Tod wahrgenommen habe: als ich nackt und eingezwängt unter meinen nackten Gefährten, mit meiner Karteikarte in der Hand, darauf wartete, vor der „Kommission“ zu erscheinen, die mit einem Blick darüber entscheiden würde, ob ich sofort in die Gaskammer müsste oder ob ich kräftig genug war, noch weiterzuarbeiten.“
  • „Wollen wir, die wir es uns zur Aufgabe gemacht haben, nachfolgende Generationen mit dem bekannt zu machen, was in nationalsozialistischen Vernichtungslagern möglich geworden war, anderen die Fakten darlegen, so haben wir uns – unabhängig voneinander und ohne Verabredung – angewöhnt, die krassesten Erlebnisse zu verschweigen, denn sie überfordern die menschliche Vorstellungskraft. Wer Auschwitz erlebt hat, muß diejenigen zu schonen trachten, die nachträglich davon erfahren, wenn die Kenntnis Nutzen bringen soll.“
  • „Damals grassierte im Zigeunerlager eine sonst in Europa kaum auftretende Krankheit: Noma. Diese Mangelkrankheit zerfraß, ja durchlöcherte den Kindern die Wangen. Czelny, damals Leichenträger in diesem Lagerabschnitt, musste die Leichen der an Noma gestorbenen Kinder aus dem Schuppen schleppen, in dem die Toten bis zum Abtransport ins Krematorium gesammelt wurden, und unter Mengeles Aufsicht die Köpfe vom Rumpf trennen. Die Köpfe ließ Mengele in mit Chemikalien gefüllte Glasgefäße legen.“

Primo Levi ist nach dem Krieg in seine Heimat Italien zurückgekehrt, hat Bücher geschrieben und als Chemiker gearbeitet. Jahrzehnte nach seiner Rückkehr hat er sich das Leben genommen.