Nur ein Vogelschiss

Liebe Leser, wir Deutsche müssen uns hin und wieder an die von den Nazis begangenen Verbrechen erinnern. Ich kann Ihnen nicht empfehlen, sich so intensiv und im Detail mit diesem Thema zu befassen, wie ich das über viele Jahre getan habe; möglicherweise gefährden Sie Ihre mentale Gesundheit.

Aus zwei Gründen müssen wir erinnern:

  1. Es ist eine selbstverständliche moralische Pflicht ! Auch für die folgenden Generationen !
  2. Die Nazidiktatur ging aus einer Demokratie hervor und begeisterte die große Mehrheit unseres Volkes. Jetzt leben wir in einem Rechtsstaat mit einer vorbildlichen Verfassung und einer parlamentarischen Demokratie und wir sind in Europa eingebunden. Schützt uns das unter allen Umständen vor der Machtübernahme radikaler linker oder rechter Parteien? Vor der Corona-Krise ging es den Deutschen wirtschaftlich besser denn je und trotzdem haben etwa 20 Millionen Deutsche im Jahr 2018 die Linkspartei oder die AfD oder gar nicht gewählt. Was passiert, wenn wir eine dramatische Wirtschaftskrise mit über zehn Millionen Arbeitslosen und einer Hyperinflation erleben?

Wir müssen die weit fortgeschrittene historische Forschung über Nazi-Deutschland und den Zweiten Weltkrieg zu Ende bringen und dokumentieren und wir müssen dieses Wissen an die nächsten Generationen weitergeben, damit eine Wiederholung solcher Menschheitsverbrechen für immer verhindert wird. Und wir müssen die Europäische Union stärken und auch rechtlich in die Lage versetzen, Rechts- und Verfassungsbrüche einzelner Mitgliedsstaaten zu verhindern.

Der folgende Artikel geht unter die Haut und ist nichts für zarte Nerven !

Der hippokratische Eid

Claude Lanzmann hat in den siebziger und achtziger Jahren Interviews mit Überlebenden und Tätern des Holocausts geführt und in seinem Film „Shoa“ und in vier weiteren Filmen dokumentiert. Einer dieser Filme heißt „Der hippokratische Eid“. In ihm erzählt Ruth Elias ihr Schicksal unter den Nazis. Das Interview wurde 1979 geführt. Elias starb vor zehn Jahren in Israel.

Ruth Elias wurde 1922 als Ruth Huppert in Mährisch-Ostrau geboren. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen konnte sie mit ihrer Familie untertauchen. Sie schlugen sich als Tagelöhner bei Bauern durch. Doch dann wurden sie verraten und in das KZ Theresienstadt gebracht. Dort traf Ruth ihren Verlobten wieder. Sie wurde schwanger. Bald darauf deportierte man sie nach Auschwitz.

In dem Interview wird deutlich, dass die junge Frau, deren Eltern, Schwester und Verwandte allesamt ermordet wurden, durch einen besonderen Instinkt mehrfach tödlicher Gefahr entging. Bei der Selektion in Auschwitz gelang es ihr, die Schwangerschaft vor dem SS-Lagerarzt Josef Mengele zu verbergen. Statt in die Gaskammer wurde sie mit etwa 1000 anderen Frauen zur Zwangsarbeit nach Hamburg geschickt. Erst dort wurde ihre Schwangerschaft entdeckt. Die SS brachte sie zusammen mit einer zweiten Schwangeren zurück nach Auschwitz. Und so schilderte sie, was dann geschah:

Im Frauenlager waren wir eine große Sensation. Denn wir beide waren die ersten, die jemals von einem Transport zurückgekehrt waren, der Auschwitz verlassen hatte. Wir hatten nicht geglaubt, dass Transporte aus Auschwitz tatsächlich irgendwo hinfuhren. Niemand in Auschwitz glaubte das. Wir waren die ersten lebenden Zeugen, die zurückgekehrt waren. Die Nachricht verbreitete sich im gesamten Frauenlager. Wir waren solch eine Sensation, dass Mengele von uns hörte. Er wollte uns sehen und ließ uns rufen. Dann begann er zu schreien: „Wie ist es möglich, dass ich zwei schwangere Frauen übersehen habe? Wo wart ihr, als ich die Leute für die Arbeit ausgesucht habe?“ Ihm war schleierhaft, wie er uns übersehen konnte; dann sagte er: „Gut. Entbinden Sie, und dann werden Sie weitersehen.“ Er kam jeden Tag und war ganz reizend. Er wechselte einige Worte mit uns: „Wie fühlen Sie sich?“ „Was machen Sie so?“ Er war sehr attraktiv und charmant, mit sehr guten Manieren; von mittlerer Statur und sah sehr gut aus in seiner Uniform. Und er war sehr selbstbewusst.

Natürlich hatten wir von Mengele gehört. Wir hatten große Angst vor ihm. Meine Zunge war wie gelähmt. Ich brachte kaum ein Wort heraus und antwortete nur auf seine Fragen. Er besuchte uns täglich im Krankenrevier des Frauenlagers. Eine Tages setzten meine Wehen ein; ich wusste nicht, dass es Wehen waren. Ich dachte, ich hätte etwas Falsches gegessen. Im Krankenrevier gab es eine polnische Hebamme, die mich betreute; ich konnte mich auf eine Decke legen und die Hebamme setzte sich zu mir, um den Rosenkranz zu beten. In jener Nacht brachte ich ein wunderschönes, sehr großes Mädchen zur Welt. Die Hebamme half mir; es gab weder Mull noch heißes Wasser; es gab gar nichts; ich lag in meinem eigenen Schmutz. Die Hebamme besorgte ein Leintuch und legte das Baby neben mich.

Am Morgen kam Mengele und sagte: „Dieser Frau muss die Brust bandagiert werden. Sie darf das Baby nicht stillen; ich will herausfinden, wie lange ein Baby ohne Nahrung leben kann.“ Meine Brüste wurden einbandagiert und das Baby schrie neben mir vor Hunger, während ich Suppe bekam. Ich nahm eine kleine Ecke von dem Leintuch, tunkte ein Stück Brot in die Suppe und wickelte es in das Leintuch, das ich meinem Kind in den Mund steckte, denn das Kind war hungrig. So ging es mehrere Tage. Ich bekam hohes Fieber, weil meine Brüste voller Milch waren und ich das Kind nicht stillen konnte. Mengele kam täglich, um seine Forschung zu betreiben: Wie lange kann ein Baby ohne Nahrung überleben?

Wir lagen beide in unserem eigenen Schmutz. Das Baby wurde immer dünner, bekam Ödeme. Ein schrecklicher Anblick. Am achten Tag kam Mengele und sagte: „Sei morgen früh um acht mit deinem Kind bereit. Ich werde euch abholen.“ Ich wusste, wenn er uns abholt, bringt er uns in die Gaskammer. Und ich wollte nicht mehr leben. Ich konnte das alles nicht mehr ertragen. In gewisser Weise war ich froh, dem Elend zu entkommen. Dann ging das Licht aus und ich begann zu weinen und zu schreien. Da kam eine Ärztin und fragte: „Warum schreien Sie so?“ Als sie mich und das Kind sah, sagte sie: „Ich werde Ihnen helfen.“ Nach einer halben Stunde kam sie mit einer Injektionsnadel zurück und sagte: „Geben Sie das Ihrem Kind.“ Ich fragte, was das sei, und sie sagte: Morphium. Ich fragte: „Wie kann ich meinem Kind das geben? Soll ich mein eigenes Kind ermorden?“ Sie antwortete: „Ich habe den hippokratischen Eid geleistet. Ich muss Leben retten. Du bist jung. Und ich muss dein Leben retten. Dein Kind wird nicht überleben. Schau es doch an. Aber du bist jung und darfst nicht sterben. Gib das deinem Kind, denn ich kann das nicht, ich darf das nicht.“ Sie redete lange auf mich ein und brach meinen Widerstand. Und so tat ich es dann. Ich gab meinem Kind die Injektion. Sie brachte die Nadel weg und das Kind lag neben mir im Sterben. Es dauerte ein bis zwei Stunden.

Bei Tagesanbruch wurden im Krankenrevier immer die Leichen eingesammelt. In Auschwitz gab es jeden Morgen eine Unmenge von Leichen. Sie kamen und nahmen auch mein Kind mit. Als um acht Uhr Mengele kam, stand ich schon für den Transport bereit. Er fragte. „Wo ist das Kind?“ Ich sagte: „Es ist heute Nacht gestorben.“ – „Ich will die Leiche sehen.“ Und damit ging er fort. Mir wurde erzählt, er hätte sie gesucht, aber die winzige Leiche in dem großen Haufen nicht gefunden. Das war selbst für Doktor Mengele schwierig.

Als er zurückkam, sagte er auf Deutsch zu mir: „Haben Sie ein Schwein gehabt. Mit dem nächsten Transport gehen Sie weg.“ Ich war nicht froh. Ich war gebrochen und konnte nicht mehr leben. Oder doch? Ich wusste nicht, was ich wollte. Ich war so apathisch. Nichts konnte mich efreuen, überhaupt nichts.“ (FAZ)