Nur ein Vogelschiss

Bei Kriegsende 1945 kannten die Menschen noch nicht die weltweit schreckliche Bilanz des Krieges mit insgesamt über 60 Millionen Toten, unter ihnen 20 Millionen aus der Sowjetunion, fast fünf Millionen Polen, mehr als eine halbe Million Franzosen, fast eine halbe Million Jugoslawen, fast 400.000 Briten und über 300.000 Amerikaner. Die Deutschen konnten auch noch nicht die Gesamtzahl ihrer 7,35 Millionen toten Landsleute kennen, ebenso wenig die Zahl der insgesamt elf bis zwölf Millionen Deutschen in Kriegsgefangenschaft.

Viele hofften noch auf die Rückkehr längst gefallener und verstorbener Angehöriger. Die meisten Kriegsgefangenen, vor allem die in britischem und amerikanischem Gewahrsam, kehrten innerhalb des ersten Nachkriegsjahres zurück, die letzten aus der Sowjetunion erst nach zehn Jahren. Über eine Million, etwa ein Drittel der Wehrmachtssoldaten, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren, überlebte diese nicht.

In deutscher Kriegsgefangenschaft waren über 60 Prozent der sowjetischen Gefangenen – 3,3 Millionen Angehörige der Roten Armee – umgekommen.

Ein endloser Treck von zwölf bis 14 Millionen Flüchtlingen und Vertriebenen strömte seit 1944/45 aus den ehemaligen deutschen Ost- und Siedlungsgebieten in ein zerstörtes Deutschland.

Einer dieser Millionen Toten war Salmen Gradowski, der 1910 oder 1911 in Suwalki in Polen zur Welt kam. Er entstammte einer Familie von Rabbinern und Kaufleuten, arbeitete selbst in einer bescheidenen Stelle, hing aber einer Karriere als Dichter nach. Im November 1942 wurde er mit seiner Familie nach Auschwitz deportiert; die Familie wurde sofort umgebracht. Ihn hingegen hat man in das sogeannte Sonderkommando bestellt, das die Opfer auf den Tod vorzubereiten hatte, sie in die Gaskammer leiten und ihre Körper nach der Ermordung bergen musste. Die Mitglieder des Sonderkommandos durchsuchten die Leichen nach Wertsachen wie Goldzähnen und Ringen und mussten schließlich die Toten in den Öfen verbrennen und ihre Asche im Fluss oder in dem umliegenden Gelände entsorgen. Am 7. Oktober 1944 wagte eine Widerstandsgruppe des Sonderkommandos den Aufstand; als einer der Anführer der unkoordinierten Revolte in Krematorium II wurde Gradowski ermordet.