Nur ein Vogelschiss

Hans J. Schneider hielt sich für „Aktion Sühnezeichen“ ein Jahr lang in der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Stutthof bei Danzig auf. Im Jahr 1993 verfasste Schneider unter dem Titel „Für die Wahrnehmung Polens“ einen Bericht, aus dem wir Ausschnitte zitieren:

„Wie ist die westdeutsche Öffentlichkeit mit dem KL Stutthof umgegangen? Es hat in den Jahren 1955, 1957 und 1964 in Bochum und Tübingen Prozesse gegen vier SS-Leute gegeben, darunter den 2. Kommandanten des KL, Hoppe. Das Strafmaß reicht von drei bis zwölf Jahre. Für schuldig befunden wurden sie, Kranke durch Benzinspritzen ins Herz getötet, Häftlinge des Judenlagers ausgewählt und im Krematorium durch Genickschuß umgebracht zu haben und an der Vergasung von Juden, Polen, insbesondere auch sowjetischen Soldaten beteiligt gewesen zu sein. Die Gerichte werten die durch Zeugenaussagen hundertfach belegten Verbrechen als „gemeinschaftliche Beihilfe zum Mord“, in einem Fall nur als „Beihilfe zum Totschlag“, sie sprechen von „gutgläubigen Deutschen“, die dann „in Schuld….. verstrickt“ worden seien. „Die ganzen Verhältnisse der damaligen Zeit waren daher strafmildernd zu berücksichtigen“, heißt es da. Den Angeklagten wird „zugute gehalten, ….. daß sie ihr Leben straffrei verbracht haben. Sie haben ein arbeitsames Leben geführt und sich nach dem Krieg, durch den sie ihre Heimat verloren haben, fleißig eine neue Existenz aufgebaut.“ (Urteilsbegründung des Landgerichts Tübingen vom 16.5.1965)

Die SS-Morde als Betriebsunfall im durchschnittlichen Leben des Normalbürgers, der Verzicht auf die Verantwortlichkeit des Handelns, die Verwechslung von Täter und Opfer! Erwähnung verdient das Urteil gegen Hoppe, den Kommandanten von September 1942 bis April 1945; zunächst zu fünf Jahren und drei Monaten, in der Revision dann zu neun Jahren Strafe verurteilt, wegen der „Beihilfe zu einem Mord, begangen an mehreren hundert Menschen“ (Schwurgericht Bochum 1957). Gemeint ist die Ermordung von Juden in der Gaskammer 1944; offenbar nicht zur Verurteilung stand an die Gesamtverantwortung des Kommandanten für alle im KL begangenen Verbrechen. Das Gericht bescheinigte Hoppe, ihm sei „wenig Zeit“ geblieben, „sich um den inneren Dienst des Lagers zu kümmern“, dies sei Sache des Schutzhaftlagerführers gewesen. Geradezu wunderbar nimmt sich aus, was das Gericht zu Hoppes Verantwortung für die Vergasung von Juden feststellt: Ihm sei zu glauben, daß er es nicht habe „begreifen könen, daß diese Menschen, nur weil sie Juden waren, getötet werden sollten“. Er habe „wohl den Vergasungen aus einiger Entfernung zugesehen, habe sich dabei jedoch räumlich distanziert“. Demnach habe Hoppe „nicht mit Täterwillen“ gehandelt, sondern lediglich „Beihilfe“ geleistet. Der Kommandant des KL ließ also morden „entgegen seiner inneren Einstellung“. Nur, er hat „nicht die Kraft gefunden, sich dem ihm angesonnenen Unrecht zu entziehen“ (4.6.1957)

Versetzt man sich in die Gefühle der Polen angesichts der Verbrechen, die Deutsche in ihrem Land begingen, so verwundert, wie maßvoll die polnischen Gerichte mit der Verhängung von Todesurteilen umgegangen sind und wie differenziert sie das Strafmaß der Haftstrafen bemessen haben. Insgesamt in den Jahren 1946 bis 1948 keine hundert Gerichtsverfahren gegen die SS von Stutthof – man muß die Zahl daran messen, daß im Zeitraum von September 1939 bis April 1945 schätzungsweise 3000 SS-Leute in Stuttfof waren; aus den noch vorhandenen Unterlagen hat man etwa 2200 Namen festgestellt.

Die tödliche Ungerechtigkeit der Konzentrationslager, die Teilung in Privilegierte und diskriminierte und vernichtete Opfer setzt sich fort bei der historischen Aufarbeitung und Darstellung: Für viele SS-Leute erlaubt das vorhandene Material, Grundlinien von Lebensläufen zu rekonstruieren; es gibt Fotos und Zeugnisse ihres Lebens; im Ansatz werden sie als Person vorstellbar. Von wenigen Ausnahmen abgesehen bleiben die Opfer im dunkeln.

Kinder sind erst gar nicht in den Evidenzen festgehalten – Neugeborene kommen, um in den Tod zu gehen. Da ist die Transportliste vom Juli 1944 aus Schaulen, 546 Mädchen, ebensoviele Jungen, 301 Frauen, „Transportjuden“, die am 25. Juli in Stutthoff eintreffen, am 26. Juli nach Auschwitz weitertransportiert werden. Ein Fernschreiben meldet am 28. Juli: „Ordungsgemäß eingetroffen. KL Auschwitz ll, gez. Kramer“, sprich Birkenau. Von den ersten 275 in der Liste aufgeführten Kindern gehören 30 dem Jahrgang 1938 an, 27 bzw. 26 den Jahrgängen 1939 und 1940, siebzehn sind drei Jahre alt, sieben zwei Jahre, eines ist 1943 geboren. Nur acht Kinder sind älter als Jahrgang 1930. 92 Kinder sind ohne Mutter, sie sind zwölf bis fünfzehn Jahre alt.

Listen, die den Transporten beigegeben sind, endlose Kolonnen von Namen, Geburtsdaten, Häftlingskennzeichen, Nummern. Tote, Tote. Diese Menschen haben einmal gelebt, mit dem gleichen Glücksanspruch wie wir. Nichts, was wir heute über sie wüßten…….