S e e l e n l e b e n

= Wolf Wondratschek über Poesie: Borges zitiert den großen amerikanischen Dichter Walt Whitman, einen Satz, worin er feststellt, dass er die Nachtluft, die wenigen großen Sterne viel überzeugender fände als bloße Argumente.

Der Poet ist der Musiker unter den Schriftstellern. Er ist der, dem die Geheimnisse des Gefühls kostbarer sind, als die Wahrheiten des Verstandes. Gedichte sind keine zu lösenden Rätsel. „Mit jedem Tag“, lesen wir bei Marcel Proust, „messe ich dem Verstand weniger Bedeutung zu.“

Was bedeutet ein Streichquartett Schuberts? Was bedeutet Wohlklang? „Two red roses across the moon.“ Oder eine erste Gedichtzeile wie: „Gelassen stieg die Nacht an Land“. Lassen Lehrer zu, Schüler sich in diesen Satz verlieben zu lassen? Wie unbekannt ist die Einsicht, dass Interpretation allen Zauber stört – und zerstört? Wer ein Gedicht nicht versteht, hat vielleicht höhere Einsichten. Es hat ihm die Sprache verschlagen, beim magischen Aufleuchten des Unverständlichen.

= Liebe Seele, trachte nicht nach dem ewigen Leben, sondern schöpfe das Mögliche aus.

= Kants Welt ist unsere Welt, wie sie sein sollte. Sie ist für uns aktuell, weil sie fast alle großen geistigen und politischen Herausforderungen, denen wir uns heute konfrontiert sehen, klar und deutlich herausgearbeitet und möglichen Lösungen zugeführt hat: vom Problem des Friedens über die Grenzen des Sag- und Denkbaren bis zu den verführerischen Heilsversprechen religiöser und politischer Moralisten; und sie deutet zugleich auf etwas hin, das durch keine Tatsachenbeschreibung oder- erklärung erfasst werden kann: auf das Ethos einer moralischen Welt, in der die Freiheit und Gleichheit aller Weltbürger möglich sein kann und der Gerichtshof der Vernunft zwar dem Streit, aber nicht dem Krieg sein Recht zugesteht. (Fundstück)

= „Vor meinem eigenen Tod“, schrieb Mascha Kaléko, „ist mir nicht bang – nur vor dem Tode derer, die mir nah sind. – Wie soll ich leben, wenn sie nicht mehr da sind? – Allein im Nebel tast ich totentlang – und lass mich willig in das Dunkel treiben – das Gehen schmerzt nicht halb so wie das Bleiben – der weiß es wohl, dem Gleiches widerfuhr. – Und die es trugen, mögen mir vergeben – bedenkt, den eigenen Tod, den stirbt man nur – doch mit dem Tod der anderen muss man leben.“

= Das Vorhandensein des Todes zwingt uns, entweder freiwillig auf das Leben zu verzichten oder unser Leben so umzugestalten, daß wir ihm einen Sinn verleihen, den der Tod ihm nicht rauben kann. (Leo Tolstoj)

= Alles erwogen, was gegen ihn (Bach) zeugen könnte, ist dieser Leipziger Kantor eine Erscheinung Gottes: Klar, doch unerklärbar. (Karl Friedrich Zelter)

= Ich möchte zur Aktualität der Gottesfrage empfehlen, einmal beim Mystiker Meister Eckhart nachzulesen: Gott ist der Seelengrund des Menschen. Gott ist keine Person. Gott ist kein Wesen. Gott ist nicht einmal etwas Seiendes. Gott ist reine Intellektualität und sonst gar nichts. Sehr deutlich wird das dann noch, wenn man wie im ersten Johannesbrief (Kap. 4) das Wort „Gott“ durch „Liebe“ ersetzt. Dann wird klar: Das Göttliche ist niemals außerhalb, sondern als Seelengrund das Ureigentliche des Menschen. Das Göttliche wird im Lieben und Geliebtwerden sichtbar und erfahrbar. (Manfred Flerus)

= Tausende Seiten habe ich geschrieben – und wahrscheinlich werde ich schreiben, solange ich lebe – doch werde ich in der Gewissheit sterben, daß es mir, hätte ich es versucht, nie gelungen wäre, in zwei oder in hunderten von Sätzen auszudrücken, was Bäume, nicht nur Birken, und was Landschaften mir bedeuten, seitdem ich weiß, daß es kein Ende gibt oder daß auf jedes Ende viele andere folgen, endlos…. Es ist die einzige Erfahrung, die – wie das Leben selbst – beides zugleich ist: tröstlich und beängstigend. (Manes Sperber)

= Völker der Erde, zerstöret nicht das Weltall der Worte, zerschneidet nicht mit den Messern des Hasses den Laut, der mit dem Atem zugleich geboren wurde.

Völker der Erde, O daß nicht Einer Tod meine, wenn er Leben sagt – und nicht einer Blut, wenn er Wiege spricht.

Völker der Erde, lasset die Worte an ihrer Quelle, denn sie sind es, die die Horizonte in die wahren Himmel rücken können. (Nelly Sachs)