Schuldig oder unschuldig?

Frankreichs Präsident Macron war erst einige Wochen im Amt, als seine Regierung „schon von 
ihrer ersten Affäre heimgesucht wurde, weil ein Minister sich in einem Immobiliendeal moralisch
 nicht einwandfrei verhalten habe“, so der SPIEGEL.

In einem Rechtsstaat reicht ein Anfangsverdacht, damit von der Staatsanwaltschaft
 Vorermittlungen eingeleitet werden; ein Anfangsverdacht entsteht auch dann, wenn ein anonymer
 Anrufer Anzeige erstattet; die Staatsanwaltschaft leitet Vorermittlungen ein und entscheidet
 danach, ob Anklage erhoben wird. Im Fall von Macrons Minister Ferrand geht es lediglich um Vorermittlungen. Das hindert die
 Medien natürlich nicht, den Namen Ferrands zu erwähnen und ihn an den Pranger zu stellen. 
(Nach meinem Wissensstand tendiert die Möglichkeit einer Verurteilung Ferrands gegen null
 Prozent.)

Wenn es sich um Politiker, Banker oder Manager handelt, dann sind die Medien mit einer
 Vorverurteilung sofort bei der Hand; riesengroße Schlagzeilen und Berichte steigern die Auflage
 und blähen die Einschaltquoten; stellt sich dann später heraus, dass keine Anklage erhoben wird
 oder der Richter befindet „Nicht schuldig“ – dann berichten die gleichen Medien in einem
 Mini-Artikelchen auf Seite 27.
Es gibt noch einen äußerst interessanten Herdentrieb bei unseren Medien: Wird in irgendeinem 
Land der Welt ein Journalist oder ein Künstler verhaftet, dann ist er natürlich genau so
 unschuldig, wie Manager oder Banker schuldig sind.

Ich teile die große Skepsis gegen den türkischen Präsidenten Erdogan und vermute, dass er bei 
den massenhaften Verhaftungen die Regeln eines Rechtsstaats nicht respektiert. Ich vermute das,
 wissen kann ich es nicht. Dennoch erlaube ich mir die Frage, welchen Anschuldigungen z.B. der
 verhaftete deutsch/türkische Journalist unterworfen ist; warum wird das nicht berichtet? Wie hätten wir reagiert, wenn Erdogan einen VW -Manager wegen angeblichen Betrugs verhaftet
 hätte?

Sehr irritierend finde ich auch die Berichterstattung über die Justiz in Russland. Dort ist es
 grundsätzlich Präsident Putin, der Menschen verhaften und einsperren lässt. Selbst der Oligarch
 Chordokowski, der in der Jelzin-Ära völlig sauber – ohne Korruption und ohne die ihm 
unterstellten Mordaufträge – zum reichsten Mann Russlands wurde, selbst die Verhaftung und
 Verurteilung dieses Unschuldslamms wurde von Putin persönlich veranlasst. Und wenn dann auch noch der russische Starregisseur Kirill Serebrennikow wegen 
Unterschlagung verhaftet und bis zum Prozess in den Hausarrest entlassen wird, ja dann 
überschlägt sich die Empörung in deutschen Medien und es ist von „stalinistischen Repressionen“ 
und einem Schauprozess die Rede. Ein moderner und erfolgreicher Theaterregisseur, der aus dem
 darniederliegenden Gogol-Theater das modischste Theater Moskaus machte und dem die 
fortschrittliche Jugend zu Füßen liegt, dieser Mann soll über eine Million Euro unterschlagen
 haben?
Die deutsche Kultur-Staatsministerin Grütters fordert die sofortige Freilassung von
 Serebrennikow mit der Begründung, alles andere wäre nicht nur gesellschaftlich und politisch,
 sondern auch kulturpolitisch ein Affront; die Vorwürfe nennt die Ministerin „einen
 merkwürdigen Vorwand“. Soll wohl heißen: Künstler bereichern uns – aber niemals sich selbst
 und schon gar nicht in Russland.