Vor über 70 Jahren endete in Paris ein delikater Prozess, an den die FAZ am 3.4.1999 unter dem Titel „Eine Bresche in die Mauer des Schweigens“ erinnerte:

Viktor Krawtschenko, ein Beamter bei der sowjetischen Einkaufskommission in Washington, kündigte am 2. April 1944 sein Ausscheiden an und stellte sich „unter den Schutz der amerikanischen öffentlichen Meinung“. Zwei Monate vor der Landung der Alliierten in der Normandie leitete diese Meldung das erste Kapitel in der Geschichte des Kalten Krieges ein.

Krawtschenko tauchte sofort nach seiner Kündigung unter; als ein politischer Dr. Kimble wechselte er von einem Versteck ins andere und verbrachte die beiden nächsten Jahre damit, in einem Erfahrungsbericht über sein Leben in der Sowjetunion einer ahnungslosen demokratischen Außenwelt die Gründe für seinen Bruch mit der totalitären Diktatur zu erklären.

Krawtschenkos Buch „Ich wählte die Freiheit“, das in 22 Sprachen übersetzt wurde, erschien im April 1946 in New York. Der Titel wurde zu einem geflügelten Wort. Die großen Verlage in Paris winkten ab, als ihnen die Rechte angeboten wurden. So kurze Zeit nach der „libération“ und der „epuration“ wollte sich keiner von ihnen mit der Sowjetunion anlegen und erst recht nicht mit der Kommunistischen Partei Frankreichs, die im November 1946 mit 28,6 Prozent der Stimmen als stärkste Partei aus den Parlamentswahlen hervorgegangen war. Dann fand sich ein kleiner Verlag und Krawtschenkos Buch wurde auch in Frankreich ein Bestseller.

Die kommunistische Kulturzeitschrift „Les Lettres francaises“ veröffentlichte unter der Schlagzeile „Wie Krawtschenko fabriziert wurde“ einen Artikel mit der Behauptung, Krawtschenkos Artikel sei im Auftrag des amerikanischen Geheimdienstes OSS von russischen Emigranten verfasst worden; Krawtschenko sei ein Gewohnheitstrinker, ein Betrüger und ein Geistesschwacher, dem von sowjetischer Seite Unterschlagungen zur Last gelegt würden.

Krawtschenko erhob im Februar 1948 bei der französischen Justiz Verleumdungklage gegen „Les Lettres francaises“ und deren Herausgeber Claude Morgan und den Chefredaktuer André Wurmser. Die Beklagten boten namhafte Zeugen auf, darunter Vercors, Verfasser des Widerstandsromans „Das Schweigen des Meeres“ und den Physiker Joliot-Curie, den Philosophen Roger Garaudy und den Erzbischof von Canterbury Dr. Johnson – sie alle bestritten Staatsverbrechen und Mißstände in der Sowjetunion. Der anglikanische Kirchenführer sagte in biblischer Schlichtheit: „Wenn Krawtschenko die Wahrheit schreibt, dann habe ich (in drei Büchern über die Sowjetunion) gelogen. Wenn ich die Wahrheit sage, dann hat er gelogen.“

Die russische Schriftstellerin Nina Berberowa, die für die in Paris erscheinende Exilzeitschrift „Ruskaja Mysl“ (Russisches Denken) den Prozess Tag für Tag verfolgte, schrieb später in ihren Erinnerungen: „Mit eigenen Ohren anzuhören, wie ein ehemaliger Minister oder ein weltbekannter Wissenschaftler, Träger des Nobelpreises, oder ein Professor der Sorbonne, die Ehrenlegion am Revers, oder ein berühmter Schriftsteller zuerst den Zeugeneid ablegte, um dann zu versichern, daß es in der Sowjetunion keine Konzentrationslager gebe und niemals gegeben habe, war einer der stärksten Eindrücke meines Lebens.“

Denn das war der Kern dieses Prozesses: die Existenz der Straflager als Element des sowjetischen Unterdrückungssystems und das war in Frankreich eine störende und verstörende Erkenntnis, in einer Zeit, in der viele, die zur politisch tätigen Generation gehörten, in deutschen Konzentrationslagern gewesen waren. Die Zeugen der Anklage waren keine Prominente, aber im Gegensatz zu diesen wussten sie, wovon sie sprachen: Bei ihren Aussagen zeichneten sich erstmals die Grenzen des „Archipel Gulag“ ab. Der Vorsitzende Richter fragte einen Zeugen, der 14 Jahre Zwangsarbeit hinter sich hatte, zuletzt beim Bau des Weißmeer-Kanals: „Wie viele Gefangene gab es im Lager?“ – „Etwa achthunderttausend.“ – „Welches Ausmaß hatte dieses Lager?“ – „Der Kanal war 280 Kilometer lang. Das war das Lager.“

Margarete Buber-Neumann, die drei Jahre Sibirien und fünf Jahre Ravensbrück überlebt hatte, schätzte, daß „ihr“ Lager zweimal so groß wie Dänemark war. Der Bericht der ehemaligen deutschen Kommunistin löste bei der Sartre-Gefährtin Simon de Beauvoir eigenartige Zweifel aus: „Wir begannen uns zu fragen, ob die Sowjetunion und die Volksdemokratien wirklich verdienten, sozialistische Länder genannt zu werden.“

Sartre stellte in seiner Zeitschrift „Les Temps modernes“ den sowjetischen Lagern, die nicht mehr in Abrede gestellt werden konnten, die Gefangenenlager auf den griechischen Inseln während des Bürgerkrieges und die Untaten der Kolonialmächte gegenüber. In jedem Fall stehe die Sowjetunion „grosso modo“ auf der Seite derjenigen, „die gegen die Ausbeutung des Menschen kämpfen“.

Dieses „grosso modo“ nimmt die „global positive Bilanz“ vorweg, die Jahrzehnte später der kommunistische Parteichef Marchais dem großen Bruder ausstellte.

Die unausweichliche Tatsache der Vergleichbarkeit der beiden totalitären Regime sprach vor Gericht kein bedeutender Denker aus, sondern ein ukrainischer Schlosser: „In Hitlers Deutschland, wo wir Dachau und Buchenwald gesehen haben, ist ein Diktator gestürzt worden. Ich sage euch: In Stalins Russland gibt es hunderte Buchenwald.“

Nach 25 Verhandlungstagen wurden die Beklagten in allen Punkten der Verleumdung für schuldig befunden und zur Zahlung einer symbolischen Summe von 100.000 alten Franc sowie den Kosten des Verfahrens verurteilt. Dabei erklärte sich das Gericht außerstande, „ein Urteil über das sowjetische Regime, wie es Krawtschenko gezeichnet hat“, abzugeben.

30 Jahre später nannte Claude Morgan, der sich nach der Niederschlagung des Ungarn-Aufstands 1956 von der Partei getrennt hatte, seinen Parteigenossen André Ulmann als Urheber der verleumderischen Fälschung: „Sie haben recht gehabt, Krawtschenko!“

Viktor Krawtschenko beging am 26. Februar 1966 in einem New Yorker Hotelzimmer Selbstmord.

Der Fall Krawtschenko hattte eine Bresche in die Mauer des Schweigens geschlagen, die nicht mehr zu schließen war.