Warum die Juden ?

(Auszug aus einem Text von dem Historiker und Autor Götz Aly, dessen Bücher im S.Fischer Verlag erscheinen und in viele Sprachen übersetzt sind)

Je länger ich mich damit beschäftige, desto mehr versuche ich, den jeweils Handelnden in ihrem zeitlichen Horizont gerecht zu werden. Ich verwende für mein Buch, das die 130 Jahre bis 1933 umspannt, ausschließlich Quellen, die von Beteiligten oder Beobachtern der jeweiligen Epoche, also von Menschen stammen, die nicht wussten, was Deutsche den Juden Europas zwischen 1933 und 1945 antun würden. Diese Zeitgenossen standen noch nicht unter dem doppelten Zwang, ein schier unbeschreibliches Verbrechen zu erklären und zugleich Distanz herzustellen. Auf solche Weise lässt sich eine Fülle unterschiedlicher, auch verwirrender Einsichten in die Vorgeschichte des Holocaust gewinnen. Mit den Ergebnissen wende ich mich an die zahlreichen mitdenkenden, neugierigen und zur Selbstbefragung bereiten Leser – nicht an irgendein „Gemeinschaftsbewusstsein“.

Die organisierten Antisemiten der Kaiserzeit waren nicht nur das, sondern auch Vorkämpfer unseres Sozialversicherungssystems. Sie färbten ihre Programme stark sozialistisch. Während des Ersten Weltkriegs und nach der Niederlage wurden die Übergänge vom proletarischen zum völkischen Kollektivismus fließend. Schon seit 1875 hatte die Verachtung des angeblich jüdischen Liberalismus britischer Prägung Zug um Zug die Oberhand gewonnen – parteiübergreifend von rechts bis links. In meine Darstellung beziehe ich viele Judengegner ein, die in kein Gut-böse-Schema passen.

Im Hinblick auf den Holocaust geht es in der Hauptsache um die Lokalität Deutschland. Die Unterschiede liegen auf der Hand. Frankreich und England verfügten anders als Deutschland um ein klar umgrenztes Territorium, sie hatten keinen Dreißigjährigen Krieg, keine napoleonische Besatzung erlitten, sie haben den Ersten Weltkrieg nicht verloren, sondern gewonnen und mit einem unklugen Friedensdiktat beendet.

Anders als in Deutschland waren die russischen Juden bis 1917 vollkommen entrechtet, während die preußischen Juden seit 1812 Rechtssicherheit und Gewerbefreiheit genossen. Ihnen gelang ein überaus schneller, bewundernswerter sozialer und wirtschaftlicher Aufstieg. Das unterschied sie von der ängstlichen, risikoscheuen und freiheitsfeindlichen Verhocktheit der deutschen Mehrheitsbevölkerung.

Juden machten im Jahr 1900 zehnmal so oft Abitur wie Christen, sie überwanden die Klippen des sozialen Aufstiegs drei- bis viermal so schnell wie diese und verdienten im Durchschnitt ein Mehrfaches. In dieser Spannung entstanden der stille, von Sozialneid und Missgunst, vom Gefühl eigener Schwäche geprägte deutsche Judenhass oder ebenjene typische, jedoch deutliche Reserviertheit gegenüber den „vorlauten“ Juden. Unbeholfene christliche Studenten, wenige innovative Unternehmer oder Kaufleute, die sich verkalkulierten, konnten nicht dauerhaft auf die besseren Ergebnisse der jüdischen Konkurrenten schimpfen. Das schadete der eigenen Moral, steigerte die Versagensangst.

Es lag nahe, den Neid- und Sozialantisemitismus zur Rassenverleumdung weiterzuentwickeln, und die individuellen Versager erklärten sich zum superioren Volkskollektiv.