Wie hätte ich mich verhalten ?

Die große Mehrheit der Deutschen lebte in der Nazizeit in der von Primo Levi so genannten Grauzone; sie gehörten weder zu den Menschen, die alles in ihrer Macht stehende getan haben, um Unrecht zu verhindern, noch zu den Verbrechern, die ein mehr oder weniger großes Teilchen in der Mordmaschinerie waren.

Peter Maiwald schrieb das folgende Gedicht:

G r a b s c h r i f t – W a r k e i n M ö r d e r – S a h i h n e n z u – H o b k e i n e H a n d – K a m n i c h t d a z u

Auch ich hätte keine Hand gehoben, wenn ich riskiert hätte, meinen Job zu verlieren oder ins Gefängnis zu wandern oder meine Familie zu gefährden; ich hätte nicht den Mut gehabt, meinen jüdischen Nachbarn zu verstecken oder die Naziregierung in Gesprächen mit Freunden zu kritisieren.

Wahrscheinlich hätte ich mich nicht daran beteiligt, den Hausrat von meinen inzwischen abtransportierten jüdischen Nachbarn zu übernehmen, wie das hunderttausende Deutsche Nachbarn gemacht haben – aber sicher bin ich mir nicht.

Ich will nicht darüber nachdenken, zu welchen Schandtaten ich bereit gewesen wäre, wenn mir im Jugendalter Hass auf die Juden oder Polen oder Franzosen eingetrichtert worden wäre.

Albrecht Haushofer (1903 – 1945) : S c h u l d

„Ich trage leicht an dem, was das Gericht mir Schuld benennen wird: an Plan und Sorgen. Verbrecher wär´ ich, hätt´ ich für das Morgen des Volkes nicht geplant aus eigner Pflicht.

Doch schuldig bin ich anders als ihr denkt, ich mußte früher meine Pflicht erkennen, ich mußte schärfer Unheil Unheil nennen – mein Urteil hab ich viel zu lang gelenkt…..

Ich klage mich in meinem Herzen an: ich habe mein Gewissen lang betrogen, ich habe mich selbst und andere belogen –

ich kannte früh des Jammers ganze Bahn – ich hab gewarnt – nicht hart genug und klar! und heute weiß ich, was ich schuldig war…..“

Albrecht Haushofer schrieb dieses Gedicht in der Berliner Haftanstalt Moabit, als er wegen Beteiligung am Attentatsversuch des 20. Juli 1944 vor Hitlers Volksgerichtshof stand. Ende April 1945, die sowjetische Armee war nur noch wenige hundert Meter entfernt, wurde er von der Gestapo in der Nähe der Haftanstalt erschossen.

Von Beruf politischer Geograph, war Haushofer zunächst Schüler und Mitarbeiter seines Vaters, Professor Karl Haushofer. Dessen Gedanken hatten starken Einfluss auf die nationalsozialistische Osteuropapolitik.

Albrecht Haushofer nutzte seine wissenschaftliche Ausbildung ebenfalls für praktische Politikberatung (Auslandsdeutsche) der Hitlerregierung. Von der Weimarer Demokratie enttäuscht, schrieb er allerdings schon beim Regierungsantritt Hitlers: „Ich kann menschlich mit den neuen Leuten (sowenig) wie Erasmus von Rotterdam mit den Wiedertäufern.“

In den dreißiger Jahren schrieb Haushoder einige heute vergessene historische Dramen. Seine „Moabiter Sonette“ jedoch sind beständige künstlerische Zeugnisse des deutschen Widerstands. „Schuld“ faßt in den beiden letzten Strophen die ganze Tragödie irregeleiteter Intellektueller der Weimarer Zeit und der Nazi-Jahre mit harter Selbstkritik zusammen. Diese Zeilen sind eine unüberhörbare Mahnung an das Gewissen jedes einzelnen Menschen, Unrecht Unrecht zu nennen, nicht wegzuschauen, wo es hinzuschauen gilt, und den Mut zu haben, zu sagen, was man sieht.