Wolf Wondratschek über Poesie

Borges zitiert den großen amerikanischen Dichter Walt Whitman, einen Satz, worin er feststellt, dass er die Nachtluft, die wenigen goßen Sterne viel überzeugender fände als bloße Argumente.

Der Poet ist der Musiker unter den Schriftstellern. Er ist der, dem die Geheimnisse des Gefühls kostbarer sind als die Wahrheiten des Verstandes. Gedichte sind keine zu lösenden Rätsel. „Mit jedem Tag“, lesen wir bei Marcel Proust, „messe ich dem Verstand weniger Bedeutung zu.“

Was bedeutet das Streichquartett Schuberts? Was bedeutet Wohlklang? Zwei rote Rosen quer über dem Mond. Oder eine erste Gedichtzeile wie: Gelassen stieg die Nacht an Land. Lassen Lehrer zu, Schüler sich in diesen Satz verlieben zu lassen? Wie unbekannt ist die Einsicht, dass Interpretationen allen Zauber stört – und zerstört? Wer ein Gedicht nicht versteht, hat vielleicht höhere Einsichten. Es hat ihm die Sprache verschlagen beim magischen Aufleuchten des Unverständlichen.