Wurden die Ostdeutschen nach der Wiedervereinigung benachteiligt ?

Professor Dr. Richard Schröder war der SPD-Fraktionsvorsitzende der frei gewählten Volkskammer der DDR und bis Ende 2018 Vorstandsvorsitzender der Deutschen Nationalstiftung; in der FAZ äußert er sich in einem sehr lesenswerten Artikel zu diesem Thema. Hier einige Auszüge:

„Dass Ostdeutschland gegenüber den anderen einst sozialistischen Ländern dank der Vereinigung bevorzugt sei, widerspricht völlig dem Selbstbild derjenigen Ostdeutschen, die sich als benachteiligt und Bürger zweiter Klasse sehen. Sensible Westdeutsche schlagen sich deshalb an die Brust. Man kann es aber auch mit der Buße übertreiben. Das Gefühl der Benachteiligung ist nicht, wie die neue Einigungserzählung behauptet, durch verfehlte westdeutsche Einigungspolitik entstanden. Die Ostdeutschen haben es in die Einigung mitgebracht. Es hat sich ihnen seit 1945 eingebrannt. Von 1949 bis 1989 sind zehnmal mehr Ostdeutsche in den Westen gegangen (oft unter Lebensgefahr) als Westdeutsche in den Osten. Die Ostdeutschen hatten, gelinde gesagt, die weniger erfreuliche Besatzungsmacht. Gerecht war es nicht, dass sich dies nach 1990 für sie noch einmal nachteilig ausgewirkt hat, indem sie die postrevolutionären Umstellungsleistungen erbringen mussten, während im Westen zunächst alles beim Gewohnten blieb, da dort keine Revolution die Verhältnisse erschüttert hatte.

Ja, die Ostdeutschen waren seit 1945 gegenüber den Westdeutschen vielfältig benachteiligt. Aber von wem? Nicht von den Westdeutschen, sondern vom Schicksal. Denn die Verteilung der Besatzungsmächte ist 1945 nicht nach Verdienst der Bevölkerung erfolgt, hat aber extrem verschiedene Lebenschancen zur Folge gehabt, und zwar bis heute.

Wenn die neue Einigungserzählung im Osten tatsächlich mehrheitlich feste Überzeugung wäre, müssten die Ostdeutschen als Betrogene und Bestohlene mit ihrer persönlichen Lage höchst unzufrieden sein und die deutsche Einheit verfluchen. Umfragen belegen das Gegenteil. Der Deutsche Post Glücksatlas hat erhoben, dass auf einer Skala von 1 bis 10 die Westdeutschen ihre Zufriedenheit je nach Bundesland zwischen 7,12 und 7,44 plazieren und die Ostdeutschen zwischen 6,76 und 7,09. Diese bescheidenen Differenzen trennen nicht mehr. Zudem sagen 70 Prozent der Ostdeutschen, ihre heutige Lage habe sich gegenüber der in der DDR verbessert. Und sechs von zehn sagen, die Vereinigung habe ihnen mehr Vorteile als Nachteile gebracht. Von den Westdeutschen sehen das nur 56 Prozent so.

Und wenn die Treuhandanstalt wirklich die DDR ruiniert hätte, wie bitte wollen wir dann erklären, dass die Arbeitslosenquote sich in Ost und West kaum noch unterscheidet und dass die Beschäftigungsquote im Osten sogar höher ist als im Westen? Die Treuhandanstalt habe ohne Not massenhaft Arbeitsplätze im Osten vernichtet, heißt es. Heute gibt es davon im Osten ein wenig mehr als im Westen. Wie bitte reimt sich das?